Madru
offen und ehrlich meine Meinung sagen. Ich leugne nicht, daß es eine Anderswelt gibt. Nur eben … ich finde, das Diesseits wunderbar genug. Auch lebendige, grünende Bäume wissen viele Geheimnisse.«
»Und der dritte Weg?« fragte Madru jetzt.
»Dazu mußt du wissen«, begann Ase wieder, »zwischen den beiden Wegen oder Schulen, von denen wir bisher gesprochen haben, ist es von jeher aus Gründen der Macht zu viel unnützem Streit gekommen ... statt daß sie zusammengearbeitet und sich in ihrem Wissen ergänzt hätten. Es gab fanatische Anhänger des einen Weges, die ließen an denen, die den anderen Weg gingen, kein gutes Haar. Es kam schließlich soweit, daß am Streit der beiden Wege die Ordnung im Reich des Großen Waldes zu zerbrechen drohte ... bis sich Menschen fanden, die einen dritten Weg einschlugen. Nicht den Weg des Waldes, nicht den Weg des Allwiss, sondern den Weg der Ritter. Auch wer sich zu diesem Weg bekennt, fürchtet, daß sich einmal ... keiner weiß, wann... eine große Katastrophe ereignen wird.., eine Katastrophe so furchtbar, so unvorstellbar gewaltig und umfassend, daß durch sie der Bestand der ganzen Welt ... Diesseits undAnderswelt ... bedroht ist. Aber, so sagen jene, die den Weg der Ritter gehen, diese Katastrophe lasse sich unter gewissen Bedingungen sehr lange hinausschieben. Je mehr Menschen den ›Weg der Ritter‹ einschlügen, je strikter sich der Einzelne an die Gebote dieses Wege halte, desto mehr wachse die Kraft, die die Katastrophe vorerst verhindere, diese jedenfalls bis an den Horizont der Zeit fortrücke.« Ase schwieg, und Madru, der ein Gefühl von Geborgenheit verspürte, das von den Zweigen der großen Buche auszugehen schien, war für den Augenblick ganz unentschieden, welchen Weg er eingeschlagen hätte, wäre von ihm verlangt worden, sich auf der Stelle hier und jetzt zu entscheiden. Alle drei Wege, so wie sie Ase ihm dargestellt hatte, besaßen etwas, das ihn neugierig machte.
Ase sah ihn an. »Jetzt bist du ziemlich hin- und hergerissen, nicht wahr?« sagte er. »Das geht den meisten so. Und man sollte sich da genau prüfen. Aber früher oder später muß man sich auch entscheiden. Nun stell dir vor, jemand hat seine Wahl getroffen und nach einiger Zeit stellt sich heraus, daß er auf dem Weg, den er gewählt hat, ganz und gar nicht vorankommt, daß es der falsche Weg für ihn war. Um dies nach Möglichkeit zu verhindern, gibt es das Bilderspiel. Man sagt, daß Bru und Bri es einst geträumt haben sollen, als sie sich liebten. Zunächst einmal ist es ein schönes Spiel. Darüber hinaus aber hat man es dazu bestimmt, aufzuzeigen, welcher der drei Wege für den einzelnen Menschen der richtige ist. Mit Hilfe der Bilder kann der Spieler überprüfen, ob er unter den drei möglichen Wegen auch tatsächlich denjenigen gewählt hat, der sein Schicksal ist.«
»Schicksal?« fragte Madru, »was hat man sich denn nun darunter vorzustellen?«
»In der Fürstensiedlung«, sagte Ase, »wirst du mit den Söhnen der Vornehmen das ›Haus der Lehren‹ besuchen und über all das Genaueres erfahren. Du wirst auch lernen, wie man das Spiel zur Meditation benutzen kann. Sie werden dir vielleicht besser erklären können, als ich es vermag, was man unter ›Schicksal‹ versteht. Im Zusammenhang mit dem Spiel ist vor allem folgendes wichtig: Es kommt vor, daß Menschen mit ihrem Verstand etwas ganz anderes wollen als in der dunklen Tiefe ihres Herzens. Es sollte nicht vorkommen, aber es ereignet sich doch häufiger als man denkt. Wenn der Gegensatz zwischen dem, was der Verstand will und dem, was die Seele braucht, zu groß wird, entsteht eine Krankheit, die den Menschen genau so umbringen kann wie Aussatz oder Pest. Das Spiel hilft ergründen, ob das Verlangen des Verstandes mit dem der Seele in Einklang steht. Und ist das der Fall, dann eben folgt der Mensch seinem Schicksal. «
Madru war ganz benommen von dem, was er alles erfahren hatte. Ase aber meinte, er solle jetzt nicht weiter darüber nachgrübeln. Sie müßten sich wieder auf den Weg machen.
Madru warf noch einmal einen Blick auf die Buche, in deren Schatten er all diese wunderbaren Dinge erfahren hatte, und es war ihm, als sehe ihn aus dem Laubwerk ein riesiger Kopf an, der ihm ermunternd zunicke.
Ase begann zügig auszuschreiten, und Madru, bewegt von vielen Fragen, folgte ihm schweigend, weil er wohl merkte, daß Ase jetzt nicht mehr über die drei Wege reden mochte.
Sie hatten seit ihrer Rast drei oder vier
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