Madru
die Vokabeln in Platten aus Birkenrinde. Noch waren es Worte und Redewendungen der Sommersprache, und es wurde erwartet, daß man sich zwei- bis dreihundert von einer Lektion zur anderen einprägte.
Dem Unterricht im Brusinischen verlieh Guh dadurch, daß er sich herabließ, ihn selbst zu erteilen, eine besondere Bedeutung. Außerdem hatten die Scholaren jeden Tag eine Fechtstunde bei einem Ausländer. Dann gab es noch eine besonnen wirkende ältere Frau, von der sie beispielsweise erfuhren, daß Eichensud gegen Halsentzündungen half, man bei Verbrennungen eine Salbe aus Pappelknospen auftrug und eine Grippe mit einem Tee aus Haselnußblättern kurieren konnte.
In den Unterrichtsstunden bei Ase machten sie zunächst Waldläufe. Er zeigte ihnen, wie man dabei richtig atmet, wie man im Winter eine Nacht im Freien verbringen kann, ohne Erfrierungen davonzutragen. Er stellte mit ihnen Holzkohle her, baute mit ihnen eine Schwitzhütte, lehrte sie Bäume pflanzen, Obstbäume veredeln, Häute gerben, das Glasblasen und Fiedelspielen.
Einmal forderte er sie auf, sich alle auf den Erdboden vor einem Baum auf den Rücken zu legen und Arme und Beine von sich zu strecken. In den Himmel schauend, mußten sie versuchen, ihre Körperhülle zu verlassen und in den Stamm und die Zweige des Baumes einzutreten, »ein Baum zu werden«, wie Ase es nannte. Es stellte sich heraus, daß allein Madru dies sofort gelang. Die anderen Scholaren sahen ihn skeptisch an, als er berichtete, wie er sich als Baum gefühlt hatte.
Ase war bei den meisten Scholaren beliebt. Geradezu bewundert aber wurde Jammes, ein junger, ausgemergelter Druiden-Mönch mit einer Hakennase, einem fanatischen Zug um den Mund und ewig rotumränderten Augen. Bei Jammes lernte man, wie der Bogenpfeil nicht so sehr durch das Zielvermögen der Augen, sondern durch Konzentration der Willenskraft ins Ziel zu lenken sei. Er sagte: »Was man so Zauberei nennt, ist, wenn es Wirkungen auslöst, also mehr ist als bloßer Hokuspokus, immer eine kreative Kombination von Willens- und Einbildungskraft.«
In jenem Fach, das sich »Bedeutung der Bilder« nannte, nahmen sie das Rukala-Epos durch, eine Geschichte aus Norrlands frühester Zeit, in der die Helden Berge, Flüsse und Wälder sind. Energie und Aufmerksamkeit waren Jammes Lieblingsworte. Meist kam er im Geschwindschritt in die Klasse und schoß, ohne stehenzubleiben, sofort seine Fragen ab, auf die er knappe und präzise Antworten erwartete. Während Guh Leistungen immer als eine Art persönlicher Huldigung auffaßte, deutete Jammes höchstens einmal an, daß es seiner Meinung nach nur vernünftig sei, sich in klarem Denken und genauer Beobachtung zu üben, diese Fähigkeiten in sich zu entwickeln. Wie theatralisch auch seine Auftritte sein mochten, kühl und distanziert war sein Verhältnis zu den Schülern.
Gerade das empfand Madru als einen Stachel. Er mochte Guhs Politik des »Bist du fleißig, bin ich nett und freundlich zu dir« ganz und gar nicht. Aber Jammes hätte er gern einen Hinweis entlockt, daß dieser ihn schätze und seine besonderen Anstrengungen wahrnahm. Genau diesen Gefallen aber tat Jammes ihm nicht.
Nachdem Jammes einige komplizierte Meditationsaufgaben mit ihnen durchgegangen war, unternahm Madru eine Generaloffensive in punkto Erleuchtung. Er hatte sich an Guhs Bemerkung aus der ersten Stunde über jene Menschen erinnert, die das Studium des Brusinischen so sensibilisiere, daß sie den Übergang in die Anderswelt vollziehen könnten. Jeweils einen Tag in der Woche ging er nicht zum Unterricht, fastete und meditierte nach einer Methode, bei der man die Gedanken dem Fluß des Atemstroms folgen läßt. Man erwartet, daß der Atem wie fließendes Wasser mit der Zeit immer mehr Erinnerungsbilder fortspült, bis schließlich am Ende das wesentliche Bild übrigbleibt.
Bei dieser Übung sah sich Madru am Ende stets vor einer Mauer … wie er meinte, vor jener Mauer, die unsere Welt von der Anderswelt trennt. Dann aber trat eine Stagnation ein. Er hatte gehofft, er werde irgendeine Öffnung, ein Schlüsselloch, ein Tor, einen sich drehenden Ring entdecken. Stattdessen lief er endlos an der Mauer entlang. Sie war hoch, ohne Tor, ohne Schloß, Lücke oder Spalt. Da war kein Durchkommen. Er zermarterte sich das Hirn nach einem Einfall … nichts. Er überlegte, stellte sich Zahlenkombinationen vor, murmelte Beschwörungsformeln aus der brusinischen Sommersprache. Nichts. Dann wurde er müde. Er zwang sich,
Weitere Kostenlose Bücher