Madru
der adligen Familien etwas Besonderes für die Bildung des Erben tun wollte, schickte sie den Sohn zu Freunden in einen anderen Landesteil oder zu einem der hochmütigen Handelsherren in den Häfen am Kleinen Meer, damit er dort eine Vorstellung davon erhalte, daß jenseits des Großen Waldes auch noch eine Welt lag.
Lesen und Schreiben, beides Fähigkeiten, die die Menschen in Norrland nur selten, wenn überhaupt, im Alltag brauchten, lernte man jeweils erst dann, wenn man es in seinem Beruf zu etwas gebracht hatte, und zwar bei einem Schreib- und Rechenmeister, der seine Unterweisung, was Ausmaß und Art des vermittelten Wissens anging, ganz auf die Bedürfnisse seines Schülers abstellte.
Von ganz anderer Art war die Bildung, die man sich aneignen mußte, wollte man nicht nur den Weg des Allwiss gehen, sondern ein Druide werden. Der Namen der Druidischen Akademie Shayallah stand als Synonym für weltabgewandtes esoterisches Wissen. Zu den Prüfungen für die Fünf Höheren Ränge der Druiden lernte man vor allem Mythologie, Theologie, Heiliges Recht und Brusinisch, die Sprache der Anderswelt. Hinzu kamen für die Prüfungen zum Sechsten Rang, aus dem der Erzdruide hervorging, Astronomie und Orakelkunde. Die Akademie befand sich in einem Waldgebiet nordwestlich der Fürstensiedlung und war in einem riesigen, aus Stein ausgeführten Palast untergebracht - ein vielbestauntes Wunderwerk in einem Land, in dem sonst nur in Holz gebaut wurde. Wer diesen Bau errichtet hatte, war unbekannt. Er galt als sehr alt, war in großen Teilen zerfallen und ein Seitenflügel wurde als Hörsaal des Ordens und als offizieller Amtssitz des Erzdruiden benutzt.
Die Mönche aber lebten in kleinen Holzhäusern mit einem kegelförmigen Dach, ähnlich dem, in welchem Madru die Tage vor der Inthronisierung verbracht hatte. Der Mönchsorden wäre reich genug gewesen, um sich den Auf- und Ausbau des Akademiegebäudes leisten zu können, aber sein Ruinencharakter sollte daran erinnern, daß alle Dinge im Diesseits vergänglich sind, und alles Lernen, Denken und Streben der Vorbereitung auf die Anderswelt zu dienen habe.
Vor dem Großen Streit zwischen, den zwei Wegen, dem des Waldes und dem des Allwiss (oder der Anderswelt), waren die Fürstensöhne immer in Shayallah ausgebildet worden. Mit der Gründung des »Weges der Ritter« hatte die Auseinandersetzung um die Prinzenerziehung begonnen.
Jeder der drei Wege hatte während der Ausbildungszeit nachhaltigen Einfluß auf den zukünftigen Herrscher zu gewinnen versucht. Durchgesetzt hatte sich schließlich der »Weg der Ritter«, und zwar gewaltsam. Ein Fürst des Waldes aus der Kaldyr-Dynastie, jenem Geschlecht, das dem nun regierenden Haus Bator vorausging, hatte seinen Sohn mit einer Hundertschaft Bogenschützen aus der Akademie in Shayallah in die Fürstensiedlung zurückbringen lassen. Aus diesem Anlaß war damals das Haus der Lehren erbaut worden. Der Hallenbau mit dem hohen Turmaufsatz in der Mitte, den Madru sah, war schon der sechste oder siebente seiner Art. Raumaufteilung und Ausstattung waren über die Zeiten hin nahezu unverändert geblieben. Vom Eingang her gelangte man in den großen Studien- und Meditationssaal. Außer den Sitzmatten und einer Skulptur, die Bri und Bru, einander an den Händen haltend, darstellte, stand darin noch eine riesige schwere Holztafel, ein Relief mit den Grundschriftzeichen des Brusinischen.
Zwischen den beiden großen Fenstern, die verglast waren – in Norrland konnte man in Madrus Jugend zwar noch kein Eisen herstellen, wohl aber Glas, und schöne Gläser waren neben Fellen eines der Hauptausfuhr- und Tauschgüter –, stand eine große, mit Schnitzwerk reichverzierte Truhe, in der 4mal 22 Schriftrollen aufbewahrt wurden. Sie waren zur Zeit der Emu-Dynastie, des ältesten überhaupt bekannten Herrschergeschlechts entstanden. Es handelte sich um Holzschnitte von archaischer Einfachheit und Eindringlichkeit, welche die 22 heiligen Baumarten in ihrem unterschiedlichen Aussehen während der vier Jahreszeiten darstellten.
Hinter dem großen Saal, in dem Meditationsübungen im Druidischen Stil abgehalten wurden und wo man auch Schattenboxen und Fechten trainierte, lag der Speisesaal. Von dort führte ein schmaler, tunnelartiger Gang in die im Turm untergebrachte Bibliothek. Die Bücher und Bildrollen auf den sechs Galerien waren hier nach dem Wissensstoff geordnet, der bei der Prüfung der Scholaren und den Examen zu den Sechs Rängen des Allwiss
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