Maechtig, mutig und genial
»als hager beschrieben, mit bleichem Gesicht, doch anmutigen Zügen, mit grünen Augen und feinen Händen, als schwärmerisch, romantisch und verträumt«, heißt es in Irene Ferchls Biographie der Mistral.
1922, dem Erscheinungsjahr von
Desolación
, kehrt Gabriela zunächst nach Santiago zurück. Auf Einladung des mexikanischen Schriftstellers und Bildungsministers José Vasconcelos sticht sie dann im Juni in Begleitung ihrer Freundin LauraRodig für zwei Jahre nach Mexiko in See, um dort an einer Bildungsreform und einer Neuorganisation der Bibliotheken mitzuwirken. Die Malerin und Bildhauerin Rodig hatte sie 1917 während einer kurzen Tätigkeit an einer Schule in der südchilenischen Stadt Punta Arenas kennengelernt, die Mistral jedoch wegen des polaren Klimas schnell wieder verlassen hatte. Rodig ist im Übrigen später Mitgründerin des chilenischen Maler- und Künstlerverbandes und die erste chilenische Künstlerin, die die indigenen Wurzeln entdeckt. Mistral pflegte nur Freundschaften zu Frauen, die waren wie sie: eigenständig und innovativ. So gehörte auch die Argentinierin Victoria Ocampo, die die bedeutende Literaturzeitschrift
Sur
herausgab und eine wichtige Rolle in der internationalen Kulturszene spielte, zum Kreis ihrer engen Vertrauten.
1923 geht
Desolación
in Chile in die zweite Auflage, es werden 20 000 Exemplare gedruckt, in Spanien erscheint eine Mistral-Anthologie und in Mexiko kommt
Ternura
(dt.: Zärtlichkeit) heraus, eine Sammlung von Kindergedichten und Wiegenliedern, sowie das Buch
Lectura para mujeres
(dt.: Lektüren für Frauen). Letzteres widmete sie der mexikanischen Lehrerin Palma Guillén, mit der sie sich während ihres Aufenthaltes angefreundet hatte. Guillén wurde zwölf Jahre später Mexikos erste Botschafterin.
Von Mexiko aus reist Mistral nach New York, wo
Desolación
auch bereits erschienen ist, und dann weiter nach Europa. Als sie 1925 für eine Weile zu ihrer kranken Mutter nach Chile zurückkehrt, ist sie so berühmt, dass ihr das Parlament eine Rente auf Lebenszeit aussetzt, die jedoch nach vier Jahren wieder gestrichen wird.
1926 geht sie nach Paris, wo sie bedeutende Intellektuelle wie Marie Curie oder Miguel de Unamuno kennenlernt. Es folgen Aufenthalte in Genf und Madrid und 1930 ein Semester an der New Yorker Columbia-Universität, um lateinamerikanische Literatur zu lehren. Danach kommt sie Einladungen an Universitäten verschiedener Länder Mittelamerikas nach; inGuatemala wird ihr die erste von zahlreichen Ehrendoktorwürden zuerkannt, und der nicaraguanische Freiheitskämpfer Augusto César Sandino verleiht ihr den Orden seines Befreiungsheeres, dessen Sache sie in ihren Schriften unterstützt hatte.
1932 wird sie Chiles erste Konsulin: »Doch als sie das Amt in Neapel antreten möchte, wird es ihr im Italien Mussolinis verwehrt, weil sie eine Frau ist«, schreibt Annegret Langenhorst in ihrer Mistral-Biographie. Über 20 Jahre ist Gabriela als Diplomatin tätig, ab 1933 in Spanien. Zwei Jahre später geht sie nach Portugal, wo sie spanischen Bürgerkriegsflüchtlingen hilft. 1938 erscheint ihr Gedichtband
Tala
(dt.: Kahlschlag): »Religiosität, Sehnsucht nach Mutterschaft, Mitleid mit den Armen und Verfolgten sind die hauptsächlichen Themenkreise«, fasst das
Autorenlexikon Lateinamerika
dessen Inhalt zusammen. Die Einkünfte daraus lässt sie Kindern zukommen, die Opfer des spanischen Bürgerkrieges geworden sind.
Ihre Konsulatstätigkeit führt Mistral 1941 in die brasilianische Kaiserstadt Petropolis. Hier freundet sie sich mit ihren Nachbarn Lotte und Stefan Zweig an, die vor den Nazis nach Brasilien geflohen sind. Als die beiden 1942 Selbstmord begehen, widmet ihnen Mistral einen Artikel. Ein Jahr später treibt sie ein weiterer Selbstmord in die Verzweiflung: Ihr Neffe und Adoptivsohn Juan Miguel, genannt Yin Yin, vergiftete sich mit Arsen, wahrscheinlich, weil der 17-Jährige Schikanen seiner Klassenkameraden nicht ertragen konnte. Letztlich geklärt ist sein Tod nicht. Gabriela Mistral hat sich zeitlebens nicht mehr davon erholt. Ihre langjährige Freundin, die US-Schriftstellerin Doris Dana, enthüllte 1999, dass Yin Yin nicht der 1927 von Mistral adoptierte Sohn eines Halbbruders war, sondern ihr leibliches Kind. Vater war Dana zufolge ein Italiener, mit dem Gabriela eine kurze Affäre hatte. Der Junge sei in Frankreich zur Welt gekommen, und Palma Guillén habe sie während der Schwangerschaft unterstützt. Laut Dana war Yin Yin Mistral wie
Weitere Kostenlose Bücher