Maechtig, mutig und genial
aus dem Gesicht geschnitten. Mistral habe dieMutterschaft damals verheimlicht, und den Jungen als Neffen und Adoptivsohn ausgegeben, weil sie, »die katholische Vorzeigefrau Chiles«, wie Langenhorst sie nennt, keinen Skandal heraufbeschwören wollte.
Genauso viel Raum für Spekulationen lässt Mistrals vermeintliche Homosexualität. Doris Dana leugnete stets, eine lesbische Beziehung zu Mistral gehabt zu haben, diese sei für sie vielmehr wie eine Mutter gewesen. Und auch zu Laura Rodig und Palma Guillén habe Mistral keine sexuellen Kontakte unterhalten. Im Übrigen habe Gabriela Männer gemocht und sei auch mehrfach liiert gewesen. Ihre erste Gedichtsammlung,
Desolación
, wird als eine Auseinandersetzung mit dem Selbstmord eines geliebten Mannes interpretiert. Einige Forscher glauben jedoch, dass einige Briefe Mistrals ihre lesbische Beziehung zu Doris Dana bestätigen.
Dana wehrte sich auch dagegen, immer wieder als Mistrals Sekretärin bezeichnet zu werden, die sie gar nicht hätte sein können, da sie nicht ausreichend des Spanischen mächtig war.
Die Nachricht von der Zuerkennung des Literaturnobelpreises erreicht Mistral im November 1945 in Petropolis, und sie soll vor einem Kreuz niedergekniet sein. Später, so Ferchl, habe sie sich als Kandidatin der Kinder und Frauen der Welt gesehen. Obwohl krank, reist sie nach Stockholm, um den Nobelpreis entgegenzunehmen. In der Laudatio wird sie vom schwedischen König als die »spirituelle Königin Lateinamerikas« bezeichnet.
Zum Jahresende ging sie dann nach Los Angeles, um dort als Konsulin zu arbeiten. Von ihrem Preisgeld kaufte sie sich ein Haus in Santa Barbara, das sie als Altersruhesitz vorgesehen hatte. Doch noch war an Ruhe nicht zu denken: Sie wurde chilenische Delegierte für die UN-Kommission für die Rechte der Frauen und Kinder, arbeitete für das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF und als Beauftragte der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO).
In Kalifornien lernt sie Thomas Mann und Hilde Domin kennen, und hier schreibt sie einen großen Teil der Gedichte des Bandes
Lagar
(dt.: Kelter, 1954), in denen sich der Zweite Weltkrieg ebenso widerspiegelt wie die Selbstmorde Yin Yins und des Ehepaars Zweig.
Doris Dana lernte sie kennen, als diese eine Essaysammlung internationaler Schriftsteller über Thomas Mann herausgab, zu der auch Mistral einen Beitrag schrieb. Auf Danas Dankesbrief folgte eine Einladung nach Santa Barbara. »Sie war jemand besonderes. Ich habe nie in meinem Leben einen Menschen kennengelernt, der weniger an sich selbst gedacht hätte und so viel an die anderen und an die Welt«, sagte Dana über ihre Freundin. Gemeinsam reisten sie nach Veracruz in Mexiko, wo sie bis 1948 blieben, um von dort nach Italien zu fahren, wo sie in Rapallo ein Haus mieteten. Mistral arbeitete dort jeweils als Konsulin und schrieb Beiträge für die kolumbianische Tageszeitung
El Tiempo
, womit sie ihren Lebensunterhalt bestritt, da sie laut Dana für ihre Konsulatsarbeit nur ein geringes Salär erhielt. Erst 1953 kehrten sie in die USA zurück, in Doris’ Haus auf Long Island. Im Jahr darauf reiste Mistral zum letzten Mal nach Chile, wo sie wie ein Staatsgast empfangen wurde. Die Universität Chile verlieh ihr einen weiteren Ehrendoktortitel. Sie litt damals bereits an Diabetes und Herzproblemen. Sie starb im Beisein von Doris Dana am 10. Januar 1957 in einem Krankenhaus in Hampstead (New York) an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ihr Leichnam wurde zunächst nach Santiago überführt und drei Jahre später in einem Mausoleum in Monte Grande beigesetzt. »Was die Seele für den Köper bedeutet, tut der Künstler für das Volk«, hatte sie einst gesagt, und dieser Satz ziert ihren Grabstein.
Mistral vermachte Dana 21 Kisten mit Korrespondenz, die 2007 nach Chile gebracht wurden und dort bearbeitet werden. Doris Dana stellte nach Mistrals Tod eine Gedichtsammlung mit dem Titel
Poema de Chile
zusammen, eine geistige Reise Mistrals durch ihre Heimat.
In fast jeder chilenischen Stadt ist heute eine Straße oder ein Platz nach Gabriela Mistral benannt, eine U-Bahnstation der Hauptstadt trägt ebenso ihren Namen wie eine private Universität und eine Verdienstmedaille für Lehrer, und sie prangt auf einem 5000-Peso-Schein. Die Organisation Amerikanischer Staaten lobt seit 1979 einen Kulturpreis aus, der ebenfalls nach Gabriela Mistral benannt wurde.
Ausgewählte Literatur:
Irene Ferchl: »›Du sollst dein Werk wie dein
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