Maechtig, mutig und genial
Kindern – dieses Bild kam ihr immer in den Sinn, wenn sie an ihre Kindheit dachte, erklärte Mercedes Sosa einmal in einem Interview. Und wenn sie sich als junges Mädchen das einzige Paar Strümpfe vor dem Monatsende zerriss, musste sie sich welche leihen. Auch das vergaß sie nie.
»Triste estoy«, ich bin traurig, hieß das Lied, mit dem die Karriere der Frau begann, die später als die Stimme Amerikas bezeichnet werden sollte. Sie trug das Lied im Oktober 1950 bei einem Gesangswettbewerb von Radio LV12 vor, einem Sender ihrer Heimatprovinz. Ein paar Freundinnen hatten sie dazu gedrängt. Sie trat unter dem Pseudonym Gladys Osorio an, denn sie wollte ihren Eltern keine Schande machen. Gladys Osorio gewann den Wettbewerb, ein Zweimonatsvertrag mit dem Sender war die Belohnung.
Sechs Jahre später lernte Mercedes Sosa in einem Folklorelokal den Sänger und Komponisten Oscar Matus kennen, und sie verliebte sich nach eigenen Worten in seine Lieder und seine Musik. Am 5. Juli 1957 heirateten die beiden, zogen zunächst in seine Heimatstadt Mendoza und 1960 nach Buenos Aires. Inzwischen war ihr einziger Sohn Fabián geboren. In Buenos Aires schlug sich die Familie mit Hausmeister- und Putzarbeiten durch. Sosas erster Platte
La Voz de la Zafra
von 1962 mit Liedern von Matus, war kein Erfolg beschieden.
1963 war das Ehepaar mit zwölf anderen Folkloresängern und -sängerinnen aus Mendoza maßgeblich daran beteiligt,die argentinische Volksmusik, die seit einiger Zeit in Mode war, auf einen neuen Kurs zu bringen. Sie nannten sich
Movimiento del Nuevo Cancionero
(dt.: Bewegung des neuen Liedgutes) und wandten sich in einem 1963 veröffentlichten Manifest dagegen, dass der Tango, der aus Buenos Aires stammte, dem Land als alleinige Ausdrucksform der Folklore übergestülpt würde. Sie propagierten eine Weiterentwicklung der traditionellen Musik sämtlicher Regionen des Landes, in der sich alle Bevölkerungsschichten wiederfinden könnten. Und sie wandten sich dagegen, dass sich das musikalische Schaffen lediglich am Markt orientierte. »Die Kunst soll sich, wie das Leben, ständig verändern, und deshalb versucht die Bewegung des neuen Liedgutes, das Volkslied in das kreative Schaffen des Volkes einzubinden, um dieses auf seinem Weg zu begleiten, indem es seinen Träumen, seinen Freuden, seinen Kämpfen und seinen Hoffnungen Ausdruck verleiht«, hieß es in dem Manifest, das die argentinische Folklore zudem im lateinamerikanischen Kontext sah: In den 1950er Jahren hatte Violeta Parra, mit deren bekanntesten Liedern Sosa 1971 ein Album aufnehmen sollte, bereits begonnen, die chilenische Volksmusik zu verändern, indem sie sie mit aktuellen, sozialkritischen Texten zusammenband. Die Bewegung griff, mit regionalen Besonderheiten, in den folgenden Jahren auf ganz Mittel- und Südamerika über. Mercedes Sosa blieb dem Anspruch des Manifests des
Movimiento del Nuevo Cancionero
ihr Leben lang treu.
Sosa und Matus traten an der Universität und in Lokalen auf und begeisterten die Zuschauer, doch der große Erfolg stellte sich nicht ein. 1965 nahm Sosa ihr zweites Album auf, auf dem sie wieder hauptsächlich Kompositionen ihres Mannes sang. Matus war es gelungen,
Canciones con fundamento
(dt.: Lieder mit Fundament) bei einer kleinen, unabhängigen Plattenfirma unterzubringen. Im gleichen Jahr gelang ihr dann der Durchbruch: Der bekannte Sänger Jorge Cafrune hatte 1962 das bis heute größte Folklore-Ereignis Argentiniens insLeben gerufen, das Festival von Cosquín in der Provinz Córdoba. Cafrune lud Mercedes Sosa ein, und ihre Altstimme war erstmals im ganzen Land zu hören. Noch im gleichen Jahr bot man ihr an, bei der Aufnahme der Folkloreoper
El Romance de la muerte de Juan Lavalle
(dt.: Die Romanze vom Tod des Juan Lavalle) des bekannten Schriftstellers Ernesto Sábato, zu der der nicht minder bekannte Komponist und Gitarrist Eduardo Falú die Musik geschrieben hatte, ein Stück zu singen.
Privat lief es weniger rund. Nach acht Jahren Ehe ließ Oscar Matus Frau und Kind wegen einer anderen Sängerin sitzen. In der Rückschau stellte sie einmal fest, dass sie erst zu Mercedes Sosa wurde, nachdem er nicht mehr versuchte, sie in den Schatten zu stellen. Sie erinnerte sich an die Jahre mit Matus als die unglücklichsten ihres Lebens, nicht nur, weil sie arm und verbittert waren, sondern auch, weil er sie schlecht behandelt hatte. Dennoch litt sie darunter, dass er sie verließ: »Zu der Zeit brauchten wir Frauen doch noch
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