Maechtig, mutig und genial
gilt Lydia Gueiler heute als eine traditionelle, bürgerliche Politikerin. Man kennt sie zwar noch als die erste weibliche (Interims-)Präsidentin des Landes und als erste Präsidentin Lateinamerikas, die als eigenständige Politikerin in dieses Amt gelangt war. Allerdings assoziiert man ihre politische Karriere mit der gescheiterten Politik des
Movimiento Nacionalista Revolucionario
(MNR, dt.: Nationalistisch-Revolutionäre Bewegung) und der Zeit der permanenten wirtschaftlichen und politischen Krisen. Doch war das Bolivien, in dem Lydia Gueiler politisch aktiv wurde, ein völlig anderes Land als das aktuelle Bolivien, und Personen wie sie halfen letztlich mit, die starren kolonialen Strukturen zu überwinden und Frauen und Indigenen einen Platz im öffentlichen Raum zu verschaffen.
Geboren wurde Lydia Gueiler Tejada am 28. August 1921 als einziges Kind des deutschstämmigen Moisés Gueiler und seiner Frau Raquel Tejada in Cochabamba. Der Vater starb früh, so dass die Mutter mit Handarbeiten und dem Untervermieten von Zimmern, der einzigen gesellschaftlich akzeptierten wirtschaftlichen Aktivität für Witwen der bürgerlichen Schicht, die kleine Familie durchbringen musste. Großvater Tejada allerdings beeindruckte seine Enkelin unter anderem durch sein politisches Temperament und seine Unerschrockenheit. Lydia absolvierte nach der Schule eine Ausbildung als Buchhalterin, heiratete sehr jung einen paraguayischen Offizier, bekam eineTochter und ließ sich bald wieder scheiden. Sie erhielt eine Anstellung bei der bolivianischen Nationalbank, mit deren Hilfe sie sich und ihre Tochter ernähren konnte. Ihr Einstieg in die Politik kam 1946 durch einen – letztlich gescheiterten – Streik der Angestellten der Bank. Kurz darauf trat sie dem
Movimiento Nacionalista Revolucionario
bei.
Obwohl Frauen in Bolivien bis dahin über keine politischen Rechte verfügten, engagierten sich viele Frauen in der Bewegung, deren erklärtes Ziel die Überwindung der autoritären oligarchischen Herrschaft war. Die Frauen beteiligten sich in den Basisorganisationen an der politischen Arbeit und führten als
comandos femeninos
Demonstrationen an. Die Bewegung wurde schnell verboten und arbeitete im Untergrund weiter. Einige Mitglieder, darunter auch Frauen, wurden an der Waffe ausgebildet. Sie operierten unter der Führung von Lydia Gueiler in sogenannten
grupos de honor
(dt.: Ehrengruppen) und wurden vor allem mit logistischen Aufgaben betraut. In den wichtigen Gremien der Partei waren, mit Ausnahme von Lydia Gueiler, keine Frauen vertreten.
1952 triumphierte die Bewegung, und Frauen sowie Analphabeten – und damit der größte Teil der indigenen Bevölkerung – erhielten endlich das Wahlrecht. Da die Verdienste der Frauen um die Revolution jedoch ansonsten nicht gewürdigt wurden, zogen sich viele bürgerliche Frauen wieder aus der aktiven Politik zurück oder beschränkten sich erneut auf die traditionellen Arbeiten im Wohlfahrts- und Sozialbereich. Eine der wenigen Ausnahmen war Lydia Gueiler, die als eine von zwei weiblichen Abgeordneten ins Parlament einzog. Dort setzte sie sich auch für die Rechte von Frauen ein und erreichte unter anderem die Einrichtung einer speziellen Abteilung für Frauen innerhalb des Arbeits- und Sozialministeriums. Allerdings blieb sie anderen weiblichen Gruppen des MNR, vor allem den zumeist aus Frauen der Unterschicht rekrutierten
barzolas
, gegenüber kritisch, denn diese weiblichen Claqueure, die auf der Straße auch schon mal handgreiflich wurden gegenGegner der Partei, entsprachen nicht ihren Vorstellungen von femininem Verhalten.
1953 wurde Lydia Gueiler zur Generalkonsulin und schließlich zur Geschäftsträgerin Boliviens in der Bundesrepublik Deutschland ernannt, und erregte hier mehr Aufsehen als in Bolivien, denn Frauen auf hoher diplomatischer Ebene waren in der BRD ein Novum. Ob diese Ernennung als Anerkennung für ihre Leistungen gedacht war, ob man damit eine zwar verdiente, aber unbequeme Frau abschieben wollte, oder ob sie, wie manche vermuten, an dem gescheiterten Putschversuch gegen Präsident Víctor Paz Estenssoro beteiligt war und man sie deshalb loswerden wollte, ist schwer zu entscheiden.
1956 kehrte sie nach Bolivien zurück und errang erneut einen Parlamentssitz, den sie – mit kurzer Unterbrechung von 1960–1962 wegen einer Stelle im Ministerium – in den folgenden acht Jahren behauptete. Ihre wichtigsten Themen waren die Rechte von Frauen, Arbeitern und Bauern. Die
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