Maechtig, mutig und genial
sie dort nichts über ihn in Erfahrung bringen konnte, stellte sie sich, wie viele andere Angehörige Verschwundener damals, morgens um fünf Uhr in die Schlange vor dem Innenministerium in der Calle Balcarce 50, um dort um Informationen nachzusuchen.Eine andere Mutter, María del Rosario Carballeda de Cerutti, erinnert sich, dass ihr dort eine Frau aufgefallen war, die sich lautstark beschwerte, weil die Regierung ihnen nichts als Lügen auftischte und nur versuchte, ihnen Informationen zu entlocken. Diese Frau rief die anderen Mütter dazu auf, sich zu organisieren und ihren Protest öffentlich zu machen. Später erfuhr Carballeda de Cerruti, dass es sich bei dieser Frau um Azucena Villaflor gehandelt hatte. Azucenas Tochter Cecilia erinnert sich an ihre Mutter als eine Frau, die immer offen sagte, was sie dachte. Und Nora Cortiñas, die heutige Vorsitzende der Mütter der Plaza de Mayo – Gründungslinie * , beschreibt sie als eine Frau mit der Fähigkeit zu führen: »Sie war wie eine Glucke, die uns alle unter ihre Fittiche nahm.«
Auch bei den Streitkräften wurde Azucena wie etliche andere Mütter bei ihrer Suche vorstellig. In der Marinekapelle Stella Maris, im Stadtteil Retiro von Buenos Aires, wandten sie sich an Pater Emilio Grasselli, den Sekretär des Militärvikars. Er bot ihnen nicht einmal an, sich zu setzen. Als der Pater dann noch einem Vater mitteilte, sein Sohn sei tot, war es Azucena, die rief, sie müssten alle zur Plaza de Mayo, den Platz vor dem Präsidentenpalast gehen, weil sie sonst nie etwas erreichen würden. Einige Mütter waren sofort einverstanden und man tauschte Telefonnummern aus. Auf die Frage, was sie denn auf der Plaza machen sollten, antwortete Azucena laut María Adela Antokoletz: »Nichts besonderes. Uns hinsetzen, reden und jeden Tag mehr werden.« Von Azucena stammte auch das Motto der Mütter: »Alle für eine und eine für alle, und sie alle sind unsere Kinder«, was signalisieren sollte, dass nicht jede nur ihr eigenes Kind suchte, sondern dass sie gemeinsam für das Auffinden aller Kinder kämpften, so Nora Cortiñas.
Am 30. April 1977, einem Samstag, ging Azucena Villaflor dann zum ersten Mal zur Plaza de Mayo, mit rund einem Dutzend weiterer Mütter. Zunächst zogen sie vor den Präsidentenpalast, um Juntachef General Jorge Rafael Videla nach ihren vermissten Kindern zu fragen, doch die Polizei fordertesie auf, ihre Versammlung aufzulösen und weiterzugehen. So beschlossen sie, rund um das Denkmal General Belgranos direkt vor dem Palast zu laufen. Da es kaum Passanten gab und niemand ihnen Aufmerksamkeit schenkte, wollten sie sich in der Woche darauf am Freitag treffen, doch eine der Mütter meinte, Freitag sei der Tag der Hexen und das bringe Unglück. Schließlich einigten sie sich auf den Donnerstag, gegen 15.30 Uhr. Und bei dem Donnerstag ist es bis heute geblieben. Als Erkennungszeichen trugen sie seitdem weiße Kopftücher, die an die Windeln ihrer verschwundenen Söhne und Töchter erinnern sollten. Nach einem halben Jahr waren es bereits 200 Mütter, die in Zweierreihen um die weiße Pyramide in der Mitte der Plaza de Mayo liefen.
Obwohl ihr Mann der Ansicht war, Azucena solle die Suche nach Néstor aufgeben, weil sie zwecklos sei, setzte sie sich gegen ihn durch. Und es war Azucena Villaflor, die ihre Adresse und ihre Telefonnummer als Anlaufpunkt der Mütter der Plaza de Mayo zur Verfügung stellte. Angst hatte sie nicht: »Die Militärs werden sich nicht mit Müttern anlegen«, glaubte sie. Die Frauen trafen sich nun regelmäßig in der Santa-Cruz-Kirche des Passionisten-Ordens im San-Cristobal-Viertel von Buenos Aires. Die Patres waren die einzigen, die sich bereit erklärt hatten, ihnen einen Raum für ihre Zusammenkünfte zur Verfügung zu stellen.
Im Juni oder Juli tauchte dann ein junger Mann in ihren Sitzungen auf, der sich als Gustavo Niño vorstellte. Er behauptete, sein Bruder sei verschwunden und er komme stellvertretend für seine kranke Mutter, die im vierhundert Kilometer entfernt gelegenen Mar del Plata lebte. So gewann er das Vertrauen der Mütter. Pedro, Azucenas Mann, mochte den jungen Mann nie, doch Azucena verteidigte ihn immer.
El rubito
, den Blonden, haben die Mütter ihn aufgrund seiner blonden Haare und seiner blauen Augen genannt. Gustavo Niño hieß eigentlich Alfredo Astiz, war Offizier des Geheimdienstes der Marine und hatte den Auftrag, Dissidenten und Menschenrechtlerauszuspionieren. Er verriet die Mütter. Am 8. Dezember
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