Maechtig, mutig und genial
1977 drang die
Grupo de tareas
(dt.: Gruppe für Sonderaufgaben) GT 332 des Marinegeheimdienstes in die Kirche ein und entführte die beiden Mütter María Eugenia Ponce de Bianco und Esther Ballestrino de Careaga sowie die französische Nonne und Menschenrechtlerin Alice Domon. Gustavo Niño alias Kapitän Alfredo Astiz hatte an diesem Tag das Treffen früher verlassen, um den Mitgliedern der Gruppe für Sonderaufgaben die Personen zu beschreiben, die sie entführen sollten. Azucena konnte an dem Treffen nicht teilnehmen. In den beiden kommenden Tagen verschwanden noch mehr Teilnehmer der Zusammenkünfte in der Santa-Cruz-Kirche, darunter eine weitere französische Nonne, Léonie Duquet. Man lauerte ihnen zu Hause, auf der Straße oder am Arbeitsplatz auf.
Kurz nach neun Uhr am Morgen des 10. Dezember, es war ein Samstag, passte eine Gruppe bewaffneter Männer, die in zwei Ford-Falcon-Limousinen gekommen waren, auch Azucena Villaflor unweit ihres Hauses im Stadtteil Sarandí von Avellaneda ab, als sie an der Ecke Avenida Mitre und Calle Crámer ein Exemplar der Tageszeitung
La Nación
kaufen wollte. An diesem Samstag, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, hatten die Mütter erstmals eine Anzeige in
La Nación
veröffentlicht, in der die Namen ihrer vermissten Kinder aufgeführt waren. Nur zehn Minuten nachdem Azucena das Haus verlassen hatte, schellte ein Nachbar an der Tür, um nach ihrem Vater zu fragen, erinnert sich Tochter Cecilia. Er hatte gesehen, wie man Azucena mit Gewalt in einen grünen Ford Falcon zerrte. Die Calle Crámer trägt heute Azucenas Namen. Sie war 53 Jahre alt und zweifache Großmutter, als sie verschwand.
Die Gründerin der Mütter der Plaza de Mayo wurde in die
Escuela Mecánica de la Armada
(ESMA, dt.: Mechanikschule der Marine) gebracht, eines der größten der 340 Folterzentren der Diktatur. Über 5 000 Menschen wurden hier zwischen 1976 und 1982 gequält, und nur 100 bis 120 von ihnen verließendas weiße Gebäude an der Avenida Libertador in Buenos Aires lebend. In der ESMA wurde 2004 eine Gedenkstätte für die Opfer der Diktatur eingerichtet.
Azucena Villaflor und die beiden anderen Mütter, so wird vermutet, wurden von ihren Peinigern in einen Lagerraum im dritten Stock gebracht, der
La Capuchita
(dt.: die kleine Kapuze) genannt wurde und der früher den Wassertank des Gebäudes beherbergt hatte. Dort wurden zehn bis 15 Gefangene weggeschlossen, deren Zwangsaufenthalt in der ESMA besonders geheim gehalten werden sollte. Die Journalistin Lila Pastoriza, die seit dem 15. Juni 1977 in der ESMA einsaß, erinnert sich, dass man am Sonntag, den 11. Dezember eine etwas ältere, korpulente blonde Frau in einem geblümten Sommerkleid gebracht hatte, die von ihrem verschwundenen Sohn erzählte und sie nach Gustavo Niño fragte. Am Tag darauf holte man die Frau ab, und als sie wieder zurückgebracht wurde, war sie fast bewusstlos und ihr Arm dick geschwollen. Spätestens am Freitag der gleichen Woche war sie nicht mehr da, so die Journalistin. Angeblich hatte man sie verlegt. Wieder auf freiem Fuß, stellte Lila Pastoriza fest, dass es sich um Azucena Villaflor gehandelt hatte.
In der Mechanikschule der Marine endet auch die Spur weiterer Mitglieder der Familie Villaflor. Einer von Azucenas Vettern, eine Cousine und deren Schwager wurden ebenfalls dorthin verschleppt. Bis heute weiß man nichts über ihr Schicksal.
Nach rund einer Woche, so hat man nach dem Ende der Diktatur 1983 rekonstruiert, wurde Azucena gemeinsam mit María Eugenia Ponce de Bianco und Esther Ballestrino de Careaga betäubt, in einen Hubschrauber verladen und bei lebendigem Leib über dem Meer abgeworfen. Tausende von Menschen fanden auf diese Weise den Tod.
Am 20. Dezember 1977 tauchten die ersten Opfer dieser Todesflüge an den Atlantikstränden der Badeorte Santa Teresita und Mar del Tuyú auf, rund 350 Kilometer südlich von Buenos Aires. Gloria Abrego, die die Toten am Vormittag währendeines Strandspazierganges gefunden hatte, hielt sie zunächst für Lumpenbündel. Die Leichen wurden am frühen Nachmittag von der örtlichen Feuerwehr geborgen. Der Polizeiarzt Roberto Dios untersuchte sie und stellte anhand der Frakturen fest, dass sie durch »Stöße gegen harte Objekte aus großer Höhe« gestorben seien. Die örtlichen Behörden beschlossen, sie ohne weitere Nachforschungen auf dem Friedhof im nahegelegenen Städtchen General Lavalle in namenlosen Gräbern zu beerdigen. Auch sollen ihnen, um die
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