Mädchen im Moor
erkannte, daß sie hier auf der feuchten Insel verhungern und verdursten würde oder bei einem Schritt hinaus vom festen Grund ebenso versinken würde wie das Boot, begann sie, laut und fast tierisch zu schreien.
Todesangst quoll aus ihr wie das Aufbrüllen eines Vulkans. Sie lief kopflos um die Weidengruppe herum, schrie und schrie, kletterte auf den höchsten Baum und versuchte, in der Ferne ein Lebewesen zu entdecken. Aber um sie herum war nur das braune, grünschillernde Moor, die Sonne schien grell und der Wind strich still, so wie hier alles lautlos war, durch ihr Haar und roch nach Moder.
Fast eine Stunde tobte sie gegen das Schicksal mit schrillem Brüllen. Dann war sie erschöpft, saß mit dem Rücken gegen die Weide gelehnt auf der Erde und starrte in den wolkenlosen Himmel.
Sie werden mich suchen. Überall. Nur hier nicht, weil hier kein Mensch leben kann. Auf der Karte sah sie das Gebiet, in dem sie nun war, aber es war ein Teil des Moores, durch das nur dünne gestrichelte Linien führten. Pfade, die im Nichts endeten. Und in diesem Nichts, mitten in ihm, saß sie, rettungslos vor allen Suchenden. Sie war geflohen, um einen Weg zu nehmen, der jenseits aller Möglichkeiten lag. Sie hatte ihn nun gefunden … den Weg, der niemals zurückführte.
Am Abend, während die Sonne am Horizont als glühender Ball unterging, aß sie ein Stück Brot und trank ein paar Schlucke Wasser. Sie öffnete die Marmeladendose und schöpfte mit dem Zeigefinger ein paarmal das süße gekochte Obst. Als sie merkte, wie durstig die Süße machte, steckte sie die Marmelade wieder weg.
Fern, ganz im Ungewissen schwimmend, sah sie ein paar Lichter über das Land huschen. Es waren Scheinwerfer, mit denen die Polizei das wegsame Moor absuchte. Vivian ahnte so etwas, kletterte wieder auf die höchste Weide und schrie und schrie.
»Hilfe! Hilfe! Hier! Hier!«
Als sie heiser wurde, glitt sie von dem Baum herunter und legte sich weinend auf die Erde.
Drei Tage lag sie so, in der kalten Nacht, im wallenden Morgennebel, in der prallen Sonne, im Feuerlicht der untergehenden Sonne, im Dämmern der bläulich herankriechenden Nacht.
In Abständen von zwei Stunden schrie sie, bis ihre Stimme überschnappte und zu einem Heulen wurde. Dann aß sie, starrte ins Moor, beobachtete die Rohrdommeln und Krähen, hörte den Fröschen zu und suchte in sich und an sich die ersten Anzeichen von Wahnsinn.
Der Kahn war im Sumpf endgültig versunken. Die faulige Erddecke hatte sich über ihm geschlossen, und nichts erinnerte daran, daß hier ein kompakter Gegenstand verschlungen worden war und nun unter der Oberfläche vermoderte. Das Moor sah aus wie eine moosige Heide, friedfertig und in seiner unwirklichen Einsamkeit schön. Ein stummer Tod.
Am vierten Tag spürte sie, ohne noch klar denken zu können, wie sie wahnsinnig wurde. Sie lag in der prallen Sonne, Fliegen umschwärmten sie, Mücken und Schnaken, und sie wehrte sie nicht mehr ab, sondern ließ sich stechen und von ihren summenden Leibern zudecken.
Der Durst zerriß ihre Eingeweide, aber sie war bereits zu schwach, um an den Rand der kleinen Insel zu kriechen und das brackige Wasser zu schlürfen. Mit offenem Mund, einer riesigen Höhle gleich, lag sie auf dem Rücken und röchelte »Hilfe! Hilfe!« Dann kamen wieder Stunden der völligen Apathie, bis der Durst sie wieder entflammte und aufschreien ließ.
Ab und zu konnte sie klar denken. Schluß, dachte sie dann. Mach Schluß. Wirf dich in den Sumpf. Geh unter wie das Boot. Aber dann schauderte sie davor zurück, im fauligen Brei zu ersticken. Lieber hier krepieren, als so zu sterben, sprach sie sich zu.
Am fünften Tag hob sie den Kopf. Ein Hubschrauber überflog das Zentralmoor.
Vivian versuchte, sich aufzurichten, zu winken, zu schreien, ein Zeichen zu geben. Sie war zu schwach dazu. Sie starrte aus glasigen Augen in den Himmel, sah die stählerne Libelle über dem Moor kreisen und sich wieder entfernen.
Es war der Augenblick, in dem der Pilot funkte: »Hier gibt es kein Leben. Es ist völlig sinnlos, hier zu suchen.«
Vivian schloß die Augen. Es hatte geregnet. Sie hatte den Mund aufgerissen und die Tropfen aufgesaugt wie ein trockener Schwamm. Nun war sie zufrieden. Das Brennen im Leib war vergangen, sie fühlte sich vollgefüllt mit Flüssigkeit, lag in einer Pfütze und dehnte sich in ihr wie auf einem Daunenbett. Wie herrlich das ist, empfand sie. Wasser! Ein Bett aus Wasser! Es kann nichts Schöneres geben. Man schwimmt
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