Mädchen im Moor
Stunden aber ist auch bei günstigster Gelegenheit – ein Auto, das sie mitnehmen konnte – nicht ein Vorsprung herauszuholen, den die Polizei nicht aufholen würde. Außerdem wurde der Autofahrer zum Mitwisser, zur wichtigsten Spur.
Für Vivian gab es nur eines: Hinein ins Moor und einen Weg nehmen, der entgegengesetzt allen Vermutungen lag, die man anstellen würde. Niemand würde glauben, daß ein vernünftiger Mensch, wenn er die Freiheit sucht, quer durch den Sumpf wandert, um südwestlich die Bundesstraße zu erreichen, statt den kürzesten Weg nach Norden zu suchen. Und völlig abwegig war es, zu denken, daß ein Flüchtender sich einen Tag oder gar zwei Tage im Moor versteckt, um dann erst seinen Weg zu gehen, wenn die Suchtrupps müde waren und die Resignation sich auf die Wachsamkeit niederschlug.
Mit schnellen Schritten ging Vivian dem Moor entgegen. Sie hielt die Karte Hilde Marchinskis in der Hand. Über der Schulter trug sie eine Hängetasche. Sie hatte eine Flasche Wasser und einen halben Laib Brot mitgenommen, eine Dose Marmelade und ein Stück Hartwurst. Diese Verpflegung hatte sie aus der Küche gestohlen. Die Köchin schwieg darüber. Es wurde so viel geklaut, daß es jeden Tag eine Untersuchung hätte geben können. Der Aufwand dazu war größer als der Schaden, den man untersuchen sollte.
Bis zum Morgengrauen wanderte Vivian mit der Karte über die festen Moorpfade in die Unendlichkeit einer schweigenden, schwabbelnden, unheimlichen Landschaft. Sie sah von weitem den Hof Fiedje Heckroths liegen und machte einen Bogen um das Anwesen mit dem riesigen, lang herabgezogenen Rieddach. Hier kannte sie die weitere Umgebung genau.
Nach zwanzig Minuten vorsichtigen Vorwärtstastens über einen schmalen, schlüpfrigen Weg erreichte sie den mit trübem, braungelbem Wasser gefüllten Moorkanal, der noch zum Besitz Heckroths gehörte und fand auch den Kahn, der an einem Weidenstumpf vertäut war. Sie löste die Taue, ergriff die lange Holzstange, die längs im Boot lag und stieß sich von dem glitschigen Ufer ab. Träge glitt der flache Kahn auf den Kanal hinaus … das Plätschern wurde von der Einsamkeit aufgesaugt, als schwämme der Kahn auf Watte.
Langsam stakte sich Vivian weiter durch das trübe Wasser. Sie fuhr von Heckroths Grundstück weg in die völlige Fremde hinaus, in das Zentralmoor, von dem sie nur gehört hatte, daß es dort Stellen gab, die selbst die Moorbauern nie betreten hatten, weil es dort kaum feste Standplätze gab. Nur mit Hubschraubern hatte man dieses Gebiet überflogen … ein flaches, bis zum Horizont sich dehnendes Gebiet mit Weiden und verfilzten Holunderbüschen, vereinzelten Birken und Schilfrohr. Ein romantisch aussehender Dschungel, ein schwermütiger Gesang der Natur, unter dessen Oberfläche die Gnadenlosigkeit eines unergründlichen, saugenden Bodens lag.
Vivian empfand keinerlei Angst vor dieser Einsamkeit und schaurigen, nach Moder und Verwesung riechenden Stille. Die Unwegsamkeit wurde ihr Freund. Das Unerforschte ihr Schutz.
Der Tag kam schnell, ohne große Dämmerung. Jetzt haben sie das leere Bett entdeckt, dachte sie und setzte sich auf den Bootsrand. Jetzt wird Alarm gegeben. Dr. Schmidt besichtigt die leere Stube im Revier. Julie Spange wird wieder mit hochroten Backen herumlaufen. Alle Mädchen werden in den Zimmern bleiben müssen. Die Tore werden geschlossen. Ich habe aus Gut Wildmoor wieder ein Gefängnis gemacht.
Sie stakte das Boot weiter, wendete in einen noch schmäleren Kanal, der nach einigen hundert Metern sich so verengte, daß sie nur noch über eine schwabbelnde, dichte, faulige Masse glitt, wie ein Schlitten über eine feste, dickbreiige Schlammwüste. Ihre lange Holzstange fand keinen Grund mehr, sie tastete in die Grundlosigkeit des Moores. Da begann sie, sich meterweise vorwärtszudrücken, bis sie ein großes Schilfgelände erreichte, das mit Weiden durchsetzt war.
Wo Bäume wachsen, muß auch ein Fleck harten Bodens sein, dachte sie. Wurzeln müssen einen Grund finden, ein Baum kann nicht auf einer Moorfläche schwimmen. Sie zog den flachen Kahn mühselig und keuchend vor Anstrengung an den Schilfhalmen durch den Dschungel und erreichte bei einer Weidengruppe festen Boden. Der Kahn knirschte und saß fest. Vorsichtig kletterte sie aus dem Boden, hielt sich an den Zweigen der Weiden fest und tastete mit den Füßen um sich.
Der Boden war naß und quietschte unter ihren Schuhen, aber er war fest. Zentimeterweise schritt sie weiter,
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