Mädchen im Moor
Vater war im Krieg gefallen, die Mutter hatte einen neuen Mann geheiratet, der die Stieftochter durch die Wohnung prügelte.
Erna Wangenbach hatte für diesen Unterrichtstag ein besonders schönes Anschauungsobjekt mitgebracht: Ober- und Unterkiefer eines Menschen. Sie wollte das Gebiß besprechen.
Still, die Hände auf den Tischen, saßen die Mädchen in erstaunlicher Bravheit im Speisesaal. Vor ihnen, auf dem grünen Tischtennis-Tisch, stand der menschliche Schädel. Pünktlich wie immer begann der Unterricht mit der Begrüßung durch Frau Wangenbach.
»Guten Tag, Mädchen!« sagte sie laut.
Und die Mädchen im Moor antworteten im Chore: »Guten Tag, Frau Wangenbach …«
»Wir wollen heute das Gebiß besprechen.« Frau Wangenbach legte die Hand auf den Schädel. Aus dem Hintergrund sagte eine Stimme:
»Au, das drückt aber –«
Frau Wangenbach überhörte diesen Einruf. Jeder Tag, den sie auf Gut Wildmoor verbringen mußte, bedeutete für sie eine Angststunde vorher. Es kostete sie immer eine Überwindung, fünfzig Mädchen gegenüberzutreten, von denen sie wußte, daß nur wenige den Nutzen dieses Unterrichtes einsahen und nur so viel Teilnahme heuchelten, daß sie nicht übel auffielen. Manchmal spürte sie einen unheimlichen, unangreifbaren stillen Widerstand. Dann bemühte sie sich, besonders herzlich zu sein, aber oft lief es ihr kalt über den Rücken, wenn sie in die Augen blickte, die oft spöttisch zu ihr hinaufsahen, und wenn sie dabei denken mußte: Du hast gestohlen … du hast einen Mann niedergeschlagen … du warst ein Gangsterliebchen … du hast dein Kind im Mutterleib getötet … du bist eine Hure … du eine Landstreicherin … eine Kaufhausdiebin … eine Blutschänderin …
Sie nahm Unter- und Oberkiefer auseinander und legte sie nebeneinander. »Au Backe!« rief wieder jemand; im Saale gluckste es leise, Füße scharrten unruhig über den Plastikboden.
»Hilde Marchinski, kommen Sie einmal nach vorn«, sagte Frau Wangenbach milde.
Hilde drängte sich durch die Reihen und kam an den Tischtennis-Tisch.
»Ja?«
»Sie sollen mir helfen. Nehmen Sie mal den Unterkiefer und den Oberkiefer und halten Sie beide hoch. So ist es gut. Nun, was fällt Ihnen beim ersten Blick auf, Hilde?«
Hilde Marchinski hatte die beiden Teile hoch emporgereckt und sah nun auf die beiden Zahnreihen. Sie dachte nach, legte den Kopf schief und schüttelte ihn dann. Doch plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. Sie zog die Arme an und hielt die Zahnreihen waagerecht vor sich hin.
»Natürlich«, sagte sie laut. »Ich hab's! Man kann sich damit selbst in den Hintern beißen!«
Der Speisesaal gellte von wieherndem Gelächter. Die Mädchen trampelten mit den Füßen und trommelten mit den Fäusten auf die Tische. Frau Wangenbach war bleich geworden, aber sie schrie nicht … sie wartete, bis der Lärm abebbte und nahm die Zahnreihen Hilde aus der Hand.
»Wie zurückgeblieben ihr alle seid«, sagte sie wegwerfend. »Über einen so uralten Witz zu lachen –«
Mit wütender Miene ging Hilde Marchinski zu ihrem Platz zurück. Sie war geschlagen worden. Sie sah es an den spöttischen Blicken der anderen. Ich werde mich rächen, dachte sie. Nachher, bei den Proben zum Weihnachtsmärchen. Zum erstenmal werden wir die Kostüme anhaben, und ich werde hinfallen und mir das Kleid zerreißen.
Die besten Schülerinnen waren Vivian v. Rothen und Monika Busse. Bei Vivian war es keine Besonderheit … sie hatte die mittlere Reife auf einem Lyzeum gemacht, und was Frau Wangenbach lehrte, war für sie nicht einmal eine Auffrischung ihres Schulwissens, sondern ein Mitspielen und der offen gezeigte Triumph den anderen gegenüber: Seht, ich weiß es! Was seid ihr schon? Kleine Flittchen, am Rand der Analphabeten. Große Schnauzen und winzige Hirne. Es war die einzige Gelegenheit, einen sozialen Unterschied aufzuzeigen. Die anderen Mädchen spürten es, und manchmal war es blanker Haß, der aus ihren Blicken flog, wenn Vivian v. Rothen souverän die Landkarte erklärte oder einen kleinen geschichtlichen Vortrag hielt.
Um so erstaunlicher war es, daß Hilde und Käthe einen Schutzwall um sie bildeten, wenn die anderen Mädchen körperliche Rache an Vivian nehmen wollten. Auch hier war es die Klugheit Vivis gewesen, die sie schützte. Sie hatte sich zur Vertrauten gemacht, sie wußte alle Tricks und heimlichen Sünden, sie war eingeweiht in alles, was auf Flur B geschah. Man hatte keine Angst vor ihr, aber man ließ auch nicht die
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