Mädchen im Moor
Möglichkeit aufkommen, sie ängstlich und damit mitteilungsfreudig werden zu lassen.
Nach dem Unterricht, der von diesem Zwischenspiel ab normal verlief, teilten sich die Gruppen. Die einen gingen in die Nähstube, die anderen in den Werkraum, neun Mädchen übten auf Blockflöten, Gitarren, Mandolinen und zwei Geigen die Märchenmusik, zwanzig Mädchen blieben im Speisesaal zurück. Sie waren die Schauspieler von Wildmoor.
Um diese Stunde bekam Regierungsrat Dr. Schmidt unverhofften Besuch. Eine Kommission unter Führung von Ministerialdirektor Bernhard Fugger stieg auf dem Innenhof aus und wurde von Julie Spange mit Mißtrauen empfangen.
»Was ist denn das?« fragte Ministerialdirektor Fugger und blickte sich um. »Eine offene Einfahrt … kein Wachhaus, keine Kontrolle –«
»Wir sind eben eine offene Anstalt.«
»Ich glaube, hier legt man das Wort zu genau aus! Na, wir werden sehen. Regierungsrat Dr. Schmidt da?«
»Ja. Wenn Sie mir folgen wollen.«
»Das wollen wir.« Fugger sah sich noch einmal um. Aus der Küche drang lautes Lachen und Singen. Die Fenster waren offen … man sah einige weißgekleidete Mädchen, wie sie nach einer Melodie im Radio sich drehten und mitsangen. »Was ist denn das!« rief Fugger fassungslos.
»Die Küche, Herr Ministerialrat.«
»Und die Mädchen?«
»Jugendsträflinge.«
»Das ist doch wohl die Höhe! Radio! Und tanzen tun sie!«
»Musik wirkte auf junge Menschen noch nie lähmend«, sagte Julie Spange giftig. »Es sei denn, man spielt Motetten –«
»Und das läßt man hier ohne Strafe zu?!«
»Es wird sogar gewünscht. Wenn die Mädchen nicht singen würden, ginge ich hinein und würde fragen: Ist was los? So ist alles in Ordnung.«
Ministerialrat Fugger drehte sich konsterniert zu den beiden anderen Herren um. »Verstehen Sie das, meine Herren? Ich komme da nicht mehr mit, ehrlich gesagt. Das ist hier ja ein Sanatorium –«
»Im gewissen Sinne.« Julie Spange riß die Tür zum Verwaltungsgebäude auf. »Man heilt hier kranke, junge Seelen –«
»Ich habe da eine andere Ansicht von Strafvollzug! Kommen Sie, meine Herren! Mir scheint, wir sind gerade zur rechten Zeit gekommen. Radio in der Küche! Was haben Sie sonst noch?!«
Julie Spange atmete tief auf. »Alles, was Sie sich denken können, Herr Rat: Vorträge, Sprachkurse, Filmvorführungen, Unterricht, eine Bücherei, Zeitschriften, Gesellschaftsspiele, Sport – von der Leichtathletik bis zum Tischtennis und Minigolf – und natürlich Fernsehen –«
»Natürlich!« Ministerialrat Fugger hatte einen roten Kopf bekommen. »Meine Herren, ein guter Rat: Wir bringen jemanden um! So gut wie im Kittchen haben wir's ja nicht zu Hause.«
»Leider sind Sie über 21 Jahre, Herr Rat«, sagte Julie Spange mit Genuß. »Es dürfte schwerfallen, Sie als Minderjährigen zu bewerten –«
Ohne Antwort, aber geladen mit Wut bis zum Gaumen, stürmte Fugger die Treppe zum Anstaltsleiter-Zimmer hinauf. Dr. Schmidt kam ihm auf dem Flur entgegen. Man sah ihm an, daß er nicht zu einer Besprechung, sondern in einen Kampf schritt.
Was innerhalb zwei Stunden bei Dr. Schmidt gesprochen wurde, erfuhr man nie. Die Herren vom Ministerium besichtigten darauf die gesamte Anstalt und nahmen an der Probe zu dem Weihnachtsmärchen teil. Ihre einzige gute, aber indirekte Tat war, daß sie den Racheplan Hilde Marchinskis verhinderten und das Kostüm nicht zerrissen wurde. Es war so wie immer, wenn Besichtigungen von Wildmoor stattfanden: Die Mädchen waren ein Muster an Sittsamkeit und Arbeitsfreude. Für ihren Dr. Schmidt gingen sie durchs Feuer, und das hieß zuerst: einen guten Eindruck machen.
Nach der Besichtigung tranken die Herren Kaffee, und wieder servierte das nette Mädchen mit der weißen Schürze, die ›Hyäne der Autobahn‹, wie die Zeitungen damals schrieben, als ihr Prozeß zum Tagesgespräch wurde. Ministerialrat Fugger war stiller geworden. Er lobte nichts, er hielt mit Anerkennungen zurück … er kämpfte innerlich mit seiner bisherigen Anschauung, daß ein Verbrecher, auch wenn er jugendlich war, hart bestraft werden mußte. Was er hier sah, schlug allen bisherigen juristischen Traditionen ins Gesicht.
Emilie Gumpertz, die Köchin, wartete am Ausgang des Speisesaales, als die Proben zu Ende waren. Sie hatte es bisher vermieden, mit Monika Busse zu sprechen, nachdem ihr Antrag, sie für die Küche zu bekommen, von Dr. Schmidt abgelehnt worden war. Aber sie hatte Monika immer beobachtet … wenn sie über den
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