Mädchen im Moor
und Hedwig Kronberg. »Hatte Frau Gumpertz Feinde unter den Mädchen? Halten Sie es für möglich, daß eines der Mädchen … oder kann es jemand von draußen gewesen sein, der von Frau Gumpertz bei einem Diebstahl im Magazin überrascht wurde?«
»Unmöglich. Er hätte dazu ins Küchenhaus kommen müssen. Das aber kann jeder sehen.« Frau Kronberg drückte die Finger aneinander, daß man sie knacken hörte. »Es muß eines unserer Mädchen gewesen sein.«
Dr. Schmidt schwieg. Der Gedanke, daß es ein Fremder gewesen sein konnte, war aus der Angst um sein Lebenswerk geboren worden. Er wußte selbst, daß es unmöglich sein konnte, aber er hatte in seiner Verzweiflung gehofft, daß man seinen Gedanken aufgreifen könnte.
Er wurde in seinem Sinnieren vom Eintritt Dr. Röhrigs unterbrochen. Ohne zu fragen, schob der Arzt die Krankenschwester zur Seite und injizierte aus einer vorbereiteten Spritze ein Kreislaufmittel in die Vene der Köchin. Dann hörte er die Herztöne ab, fühlte den Puls und sah sich darauf um.
»Bitte, lassen Sie mich mit der Verletzten allein«, sagte er laut. »Sie, Herr Direktor, können bleiben.« Er wartete, bis alle das Krankenzimmer verlassen hatten. Mit ernster Miene rollte er die Gummischläuche seines Membranstethoskopes zusammen und steckte es in die Rocktasche. Das blasse, verzweifelte Gesicht Dr. Schmidts empfand er wie einen persönlichen, körperlichen Schmerz. »Was nun?« fragte er leise. Dr. Schmidt blickte zu ihm auf.
»Du kannst dir denken, was das für mich bedeutet«, sagte er stockend. »Wenn das publik wird … in Fachkreisen, in der Presse …«
»Wieso: ›wenn‹? Du mußt doch Meldung machen, nicht wahr?« Dr. Röhrig ahnte eine neue, in den Folgen weit schlimmere Komplikation. »Du kannst das doch nicht verschweigen, Peter. Du mußt sofort die Polizei einschalten, die Mordkommission –«
»Unmöglich!« Dr. Schmidt erhob sich seufzend. »Wenn du wüßtest –«
»Ich ahne diesen Rattenschwanz, der folgt! Kommissionen, Dispute, Ausschüsse, Gutachten, Schließung von Wildmoor …« Dr. Röhrig beobachtete Emilie Gumpertz. Ihr flacher Atem, vorhin kaum wahrnehmbar, wurde lauter und regelmäßiger. Der flatternde, mit größter Mühe tastbare Puls, schlug kräftiger. Sie kam ins Leben zurück. Dr. Röhrig betastete vorsichtig die Kehle und den Knorpel des Kehlkopfes. Die würgende Hand war nicht so stark gewesen, diesen Kehlkopf einzudrücken, was den sofortigen Tod zur Folge gehabt hätte. Es war also eine nicht kräftige Hand gewesen, eine Mädchenhand, die zum erstenmal um einen Hals gelegen hatte.
Als er sich aufrichtete, sah er Dr. Schmidt am Fenster stehen, mit vorgezogenen Schultern, das Bild eines inneren Zusammenbruchs.
»Du mußt die Polizei rufen, Peter«, sagte Dr. Röhrig eindringlich. »Ich bin kein Jurist … aber was du tun willst, ist so etwas wie das Verschweigen oder Unterdrücken einer Straftat! Es sollte ein Mord sein! Nur die robuste Natur der Gumpertz verhinderte diese Tragödie …«
»Es ist schon mehr als eine Tragödie.« Die Stimme Dr. Schmidts war rauh vor Erregung. »Unter diesen Mädchen ist ein Außenseiter … noch weiß ich nicht, wer es ist. Aber soll wegen dieses Außenseiters ganz Wildmoor geopfert werden?«
»Das glaube ich nicht. Es war eine persönliche Rache. Ich habe dieses dumpfe Gefühl –«
»Frau Gumpertz wird auf eine Untersuchung drängen! Willst du ihr sagen, daß sie den Mund halten soll? Willst du dich in die Hand dieser Frau liefern, die dir zu jeder Stunde, die ihr recht ist, den Glorienschein des Vollzugs-Reformators abdrehen kann?«
»Man wird die Täterin nie finden«, sagte Dr. Schmidt dumpf. »Ob die Mordkommission alles aufnimmt oder ob ich nachforsche … wir werden uns am Schweigen der anderen und an der Motivlosigkeit oder der Unkenntnis des Motivs die Schädel einrennen. Da ist es besser, ich laufe allein gegen diese Mauer, als daß dieser Fall zu einem Musterbeispiel wird, daß offene Anstalten doch ein Unding sind.«
»Das ist ungesetzlich, was du tust, Peter.«
»Ich weiß. Aber ich will Wildmoor retten. Ich weiß, daß dieser Mordversuch an Frau Gumpertz nichts mit Charakter oder Nichtcharakter meiner Mädchen zu tun hat.«
»Eine merkwürdige Einstellung.« Dr. Röhrig schob die Augenlider der Köchin hoch. Der Augapfel war noch etwas verdreht, aber er zuckte, als Dr. Röhrig ihn leicht mit der Fingerkuppe berührte. Die Reflexe kehrten zurück, der linke Fuß begann zu zittern und sich
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