Mädchen im Moor
Kitsch ist's ja doch … Hier war es eine riesige Fichte, die vom Parkettboden bis unter die gewölbte Decke ragte, wild aus dem Wald herausgehauen, so, wie die Natur sie wachsen ließ, wie die Winde sie zerzausten, wie Eis, Schnee, Sonne und Regen sie verbogen … ein Baum voll Kraft und Auflehnung gegen die Elemente, mit breit ausladenden Zweigen und trotzigen, dicken Nadeln. Auf sie hatte der Diener die Kerzen gesetzt, selbstgezogene, braune Bienenwachskerzen. Das war alles. Ein wilder Baum mit Bienenwachs. Er war von jeher Anlaß gewesen, daß am Heiligen Abend die Stimmung im Hause v. Rothens auf den Gefrierpunkt sank. Helena v. Rothen hatte – als es an das Aufstellen des Baumes ging – immer ihren Mann einen Barbaren genannt. Sie kam mit Kugeln an, von rosa bis giftgrün, mit Engelshaar, mit Glasketten, mit tanzenden Wachsengeln, mit Schneebällen aus Watte. »Das Kind soll Freude haben, nicht du!« hieß es dann immer. Und die Antwort war immer die gleiche: »Auch Kinder sollen von klein auf das Gefühl für Echtheit und für Kitsch bekommen!«
So ergab es sich, daß es – solange Helena v. Rothen noch im Hause war – zwei Weihnachtsbäume aufgestellt wurden … die mächtige, trutzige Fichte im Kaminzimmer und der bunte, glitzernde, überladene Tannenbaum im Boudoir Helenas, ein Bäumchen wie aus französischem Marzipan. Vivian pendelte deshalb von Zimmer zu Zimmer … im Boudoir lachte sie über die in der aufsteigenden heißen Luft der Kerzen sich drehenden Engel aus silbernem Blech … im Kaminzimmer stand sie klein und fast ehrfürchtig vor dem Boten aus dem wilden Wald und sog den süßen Duft der Bienenwachskerzen in sich. Und sie fühlte damals schon, daß hier zwei Welten aufeinandertrafen, die sich nie finden konnten.
An diesem Heiligen Abend gab es nur den einen Riesenbaum im Hause v. Rothen. Und es gab einen langen, mit schimmernder Damastdecke geschmückten Tisch, an dessen Kopf ein alter, einsamer Mann saß, sich von seinem Diener bedienen ließ, ein Stückchen Truthahn nahm, ein Kleckschen Preiselbeergelee, einen kleinen Kartoffelkloß, eine halbe Kelle Soße … die Kerzen knisterten in den wilden Zweigen, es roch nach angesengten Tannennadeln … und der alte Mann mit dem weißhaarigen Gelehrtenkopf spielte in dieser Stunde vor, was es heißt, Haltung zu bewahren und jeder Lebenslage gerecht zu werden.
Er aß … trank ein Glas Bordeauxwein … er schlürfte als Nachtisch ein Täßchen Mokka … er saß am Kamin, fast unter den ausladenden Zweigen seines Riesenbaumes, und rauchte eine lange Havanna … und das alles in völliger Lautlosigkeit, wie in einem Totenhaus, in dem zur Geisterstunde die Leichname neues Leben erhalten.
Was Holger v. Rothen in diesen einsamen Stunden dachte, war nichts anderes als das, was der Fuhrunternehmer Hans Busse mit seinen polternden Worten herausschrie. Nur hatte er keinen, dem er es zuschreien konnte … Helena v. Rothen feierte ihr Weihnachten im exklusivsten Soire-Club in Monte Carlo, wo in diesem Augenblick ein Weihnachtsmann die Bescherung vornahm … ein üppig gewachsenes Mädchen im Bikini, dessen Gesicht mit langem weißen Bart und einer roten Zipfelmütze andeuten sollte, daß es sich um Weihnachten handelte.
Man amüsierte sich köstlich über diesen Weihnachtsmann und äußerte den Wunsch, als einzige Maskierung nur den weißen Bart übrigzulassen. Mit Rücksicht auf den Charakter des Festes wurde unter großem Bedauern dieser Wunsch abgelehnt.
Da sitzt man nun, dachte Holger v. Rothen und zog an seiner Zigarre, während der Diener ein Glas Portwein einschenkte. Man hat ein Schloß, man hat Fabriken, man hat Millionen, man hat die Güter der Erde vor sich liegen und kann sie sich leisten … und was hat man wirklich?
Die Einsamkeit.
Wie wenig lohnt es sich, den Schätzen des Lebens nachzujagen … wem man es erzählt, der wird es nicht glauben. Wer alles hat, wird er denken, der kann gut reden und melancholisch sein. Selbst diese Melancholie trägt Kapital, denn ununterbrochen arbeiten ja die anderen für ihn, ob er fröhlich ist oder sich im dummen Weltschmerz gefällt. Das Geld fließt weiter, wenn man erst die richtige Quelle aufgebohrt hat.
»Haben Sie Nachricht?« fragte er plötzlich in die Stille hinein. Der Diener zuckte zusammen.
»Nein, Herr v. Rothen.«
»Kein Brief?«
»Nichts.«
»Sie können es mir jetzt ruhig sagen, auch wenn ich Ihnen verboten habe, Post meiner Tochter vorzulegen.«
»Es ist nichts gekommen, Herr
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