Mädchen im Moor
gedeckten Tisch saß die Familie Busse und versuchte, zu essen. Es gab wie immer Schweinebraten mit grünen Klößen, es roch wieder nach Pfeffernüssen und Zimtgebäck, der Baum stand glitzernd in der Ecke neben dem Büffet, aber das waren nur Äußerlichkeiten, die Weihnachten anzeigten. In den Herzen der Busses, die um den runden Tisch hockten, war es leer, finster und kalt. Damit es keinen leeren Stuhl am Tisch gab, hatte Hans Busse einen der Eßstühle weggestellt … aber es nutzte nichts … der leere Fleck am Tisch blieb, und während sie einige kleine Stückchen Fleisch und einen Happen Klöße im Munde drehten und kaum schlucken konnten, flackerten die Kerzen und spielte das Radio den Hymnus der Stillen Nacht.
Hans Busse schob plötzlich seinen Teller zurück, sprang auf und drehte das Radio ab. Die plötzliche Stille war noch drückender als der Weihnachtsgesang … das Knistern der Kerzen und der Geruch des Zimtgebäckes ergaben zusammen eine Last, die die Busses kaum noch auf dem Herzen tragen konnten.
»Man müßte sich besaufen können!« sagte Hans Busse dumpf. »Besaufen, bis man umfällt und diese verdammten Tage verschläft!«
Erika Busse sah auf ihre verarbeiteten Hände. Sie umklammerten den Teller, als sei er ein Rettungsring, an dem sie über einen tobenden Ozean schwamm.
»Keine Karte … kein Päckchen –«, sagte sie leise.
»Ich will davon nichts mehr hören!« schrie Busse. »Seit Wochen höre ich nichts anderes! Sie soll wissen, daß sie bestraft wird –«
»Aber in Wirklichkeit werden wir alle bestraft damit.«
»Wir haben es verdient! Wir haben alle nicht so auf Monika aufgepaßt, wie es sein sollte! Wir alle sind schuldig! Jawohl, schuldig!« Busse wandte sich zur Wand. Der Anblick des geschmückten Tannenbaumes reizte ihn, auf ihn zuzustürzen und die Kugeln, das Lametta, den ganzen Behang abzureißen, den Baum zu nehmen und aus dem Fenster zu werfen; eine wilde Zerstörungswut kam über ihn, wenn er den Glanz sah, die kleinen Tische mit den eingepackten Geschenken, die niemand berühren würde, die keine Freude schufen, keinen Dank, nur immer wieder neue Tränen und die immer wieder gleichen Gedanken: Was macht jetzt Monika? Hat sie auch einen Tannenbaum? Sitzt sie jetzt am Fenster und starrt hinaus in das vereiste Moor, in eine Nacht voll Kälte und Feindschaft, ein junger, über das Leben gestolperter Mensch, der in dieser Stunde das ganze Grauen erfaßt, was es heißt, ausgestoßen zu sein?
»Blast die Kerzen aus!« sagte Busse heiser. »Ich bitte euch … blast sie aus … oder ich werfe den Baum aus dem Fenster …«
Später saßen sie alle im Dunkeln am Fenster und sahen hinunter auf die Straße. Gegenüber, rechts und links überall an den Häusern leuchteten die Fenster, sah man die brennenden Bäume, hörte man durch die geschlossenen Fenster den Gesang, Kinderlachen, frohe Stimmen, sah lustige Menschen, die miteinander anstießen, sah eine Frau, die sich im Zimmer drehte, in einem neuen Pelzmantel, den sie an sich drückte … und darunter die stille, ausgestorbene Straße, schmutziger, weggefegter Schnee, nasser Asphalt, der die Straßenlampen reflektierte, einige einsame Autos, wie verirrte Leuchtkäfer … und dann wieder Stille unter einem grauschwarzen Himmel.
Die Busses saßen bis um Mitternacht am Fenster und sprachen kein Wort. Ihr einziges Lebenszeichen war ein glühender Punkt, der ab und zu heller wurde und einen Teil von Hans Busses Gesicht in ein rotes Schimmern hob. Aber man kann nicht eine Zigarre nach der anderen rauchen, und so erlosch auch dieser Funken. Als die Glocken die Mitternacht einläuteten, standen die Busses auf und gingen stumm ins Bett. Doch bevor sie einschliefen, tastete Erika noch einmal zur Hand ihres Mannes.
»Ob … ob sie jetzt auch schläft …?« fragte sie mit leiser, zitternder Stimme.
Hans Busse antwortete nicht. Er konnte es nicht … er hatte das Gesicht in das Kissen gedrückt und weinte lautlos.
Weihnachten.
In der Villa Holger v. Rothens servierte der Diener den Truthahn.
Es geschah alles in der feierlichen Lautlosigkeit, in der im Hause v. Rothens dieses Traditionsessen von jeher stattfand. Neben dem offenen Marmorkamin ragte der Weihnachtsbaum bis zur Decke, nicht mit bunten Kugeln geschmückt, nicht mit silbernem oder goldenem Lametta behangen, nicht mit einer Glöckchenspitze gekrönt, kein Baum, vor dem man steht und langgezogen sagt: »Oh … wie schöööön …« und in Wahrheit denkt: ein bißchen
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