Mädchen im Moor
möglich sein, sie zu sehen. Nur waren die Möglichkeiten begrenzt, wenn man nur noch 227,73 DM in der Tasche hat und nicht weiß, wie und wo und wann man wieder neues Geld dazu verdienen würde.
Zunächst mietete Willi ein Auto. Es gab in Stavenhagen einen Schmied, der so etwas tat … das hatte er von den Metzgersleuten schnell erfahren. Er hinterlegte 100 DM als Sicherheit, stieg dann in das alte Fahrzeug und rumpelte über die vereiste Straße nach Gut Wildmoor.
Nach einer Fahrt von etwa zwanzig Minuten stand er in einem Birkenwald, und die Straße endete im Unterholz. Verwundert stieg Willi aus, stapfte durch den Schnee, sah, daß der Weg wirklich aufhörte und kein umgestürzter Baum ihn bloß versperrte, kehrte zu seinem Wagen zurück und studierte seine Autokarte.
Die Richtung war richtig … und doch mußte er sich verfahren haben. Die Provinzialstraße machte einen leichten Bogen nach Süden, er aber war immer geradeaus gefahren. Auch diese Straße war auf der Karte eingezeichnet, doch war sie nur ein dünner Strich, der im Moor endete … ein Moorweg, den die Bauern benutzten, um Holz in den verstreuten Wäldern und Büschen zu schlagen.
Pfeifen-Willi spürte, wie es ihm heiß wurde. Er ahnte, daß er mitten im Moor stand, daß es nur den Weg zurück gab, die dünne Spur seiner Reifen, die er rückwärts setzen mußte, weil er nicht wußte, wie breit der Pfad war und wo unter der glatten, weißen Schneedecke der Sumpf begann.
Vorsichtig manövrierte er den Wagen ein Stück zurück. Er blieb genau in der Spur, aber seine Hände um dem Steuerrad zitterten, Schweiß stand ihm auf der Stirn, und die bleierne Angst saß ihm in den Knien.
Daß es wieder zu schneien begann, versetzte ihn in Panik. In dicken, dichten Flocken rieselte es vom grauen Himmel, und es dauerte nur wenige Minuten, bis die Reifenspuren zugedeckt waren und hinter ihm nur eine glatte, weiße Fläche war, ein konturloses Feld, eingerahmt von Birken und Wacholderbüschen. Es gab keine Andeutung eines Weges mehr, keine Markierung, nichts als eine riesige weiße Fläche.
Willi stellte den Motor ab. »Mist! So ein Mist!« Es war ihm klar: wenn ihn hier kein Bauer entdeckte, war er verloren. Unmöglich, allein den Weg zu finden. Er sah auf seine Uhr. Zwei. Bis zum Abend war es lange Zeit. Bis dahin würde jemand kommen …
Es hatte aufgehört zu schneien. Dafür kam Wind auf und blies Schnee wie feinen Nebel über das Moor.
Willi hockte hinter dem Steuerrad und hupte … hupte … hupte. Aber es war, als pralle jeder Ton gegen Watte. Er reichte im Schneewind nicht weiter als bis zum letzten Baum der Birkengruppe.
Als es dunkel wurde, packte Willi die Angst. Die Kälte drang durch seinen dicken Wintermantel.
Wegzulaufen wagte er nicht. Nicht einen Schritt vom Auto weg! Da wo er stand war fester Boden. Ob es ihn noch einen Schritt weiter links oder rechts gab, war ungewiß. So kroch er wieder in den Wagen, stellte die Scheinwerfer an und hupte.
Mein Gott, dachte er. Jemand muß mich doch hören oder sehen. Ich stehe doch nicht am Ende der Welt!
In der Nacht schneite es erneut. Der alte Wagen wurde zu einem Schneehügel, unkenntlich zwischen den Birken und Holunderbüschen.
Willi hatte die Scheinwerfer ausgedreht und auch das sinnlose Hupen eingestellt, um die Batterie zu schonen. Statt dessen ließ er den Motor laufen, gab Gas im Leerlauf und schaltete die Heizung ein. So wurde es leidlich warm in seinem unbequemen Gefängnis, und es würde so bleiben, denn vor der Abfahrt hatte er vollgetankt, was für 500 km Fahrt ausreichte.
In dieser langen Nacht – er wagte nicht zu schlafen, damit der Motor nicht ausging – hatte er Zeit genug, über das Unternehmen nachzudenken, das so schmählich im Schnee erstickte. Und je weiter die Nacht voranschritt und der Schnee ihn zudeckte, um so sinnloser erschien es ihm, was vorher wie ein Spaziergang aussah: Hilde sehen, sprechen und mitnehmen … Man sagt das so leicht: Mädchen, komm, geh mit … wir hauen ab, und irgendwo verstecken wir uns und warten ab, bis die Luft rein ist.
Wo sollte man sich verstecken?
Wovon sollten sie leben?
An alle Polizeidienststellen würde die Fahndung weitergegeben werden, nirgendwo würde es Ruhe geben, immer würden sie auf der Flucht sein. Das Leben gehetzter Wölfe, vogelfrei für jeden, der sie erkannte. Nur im Ausland würde es Ruhe geben … aber wie kommt man über die Grenze ohne Paß und Ausweis? Hilde Marchinskis Papiere lagen bei den Strafakten …
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