Mädchen im Moor
und jedes Land würde sie ausweisen, wenn eine polizeiliche Kontrolle das Fehlen aller Ausweise feststellte.
Natürlich gab es die Möglichkeit, falsche Papiere zu bekommen. Willi kannte die Quellen, aus denen die besten Pässe hervorkamen, nicht unterscheidbar von den echten. Aber ein solches Papier kostete Geld, viel Geld. Um Geld zu bekommen, mußte man arbeiten oder ein krummes Ding drehen. Und beides waren Anstrengungen, denen sich Willi nicht aussetzen wollte, so lieb er Hilde Marchinski hatte und so sehnsuchtsvoll sein Herz bei den Gedanken an sie klopfte.
Das alles waren Tatsachen, die Willi jetzt in Ruhe Überdenken konnte. Je eingehender er sich aber mit diesen Gedanken beschäftigte, um so unruhiger wurde er innerlich. Er erkannte, daß er ein riesengroßes Rindvieh gewesen war, als er voll Kummer und Trotz die Stadt verließ, um sich in dieses Abenteuer einzulassen. Ich bin eben ein impulsiver Mensch, dachte Willi und tat sich selbst leid. Wenn mein Blut schäumt, werde ich unlogisch. Um so heilender ist diese Abkühlung hier … man bekommt klare Gedanken und sieht die Dinge nüchterner.
So gegen drei Uhr nachts wurde er unbekämpfbar müde. Er ertappte sich dabei, daß er einnickte und dann sein Fuß vom Gaspedal rutschte. Wohl drehte der warme Motor weiter, aber ohne Gas und mit Motorhitze würde die Heizung bald erkalten.
»Was soll's?!« sagte Willi laut, brach den Deckel des Handschuhkastens ab und klemmte mit ihm das Gaspedal fest. Dann legte er sich über die beiden Vordersitze, wickelte den Mantel dicht um sich, zog die Beine so weit wie möglich an und schlief ein. Er träumte sogar, so warm und den Umständen entsprechend angenehm war es … nur der Traum war es nicht. Er träumte von Lotte Marchinski. Sie stand an der Ecke, pöbelte die Männer an und rief über die belebte Straße: »Bubis – ick brauche dreihundert Emmchen … die hat er mir jeklaut, det faule Aas von Willi –«
Willi grunzte im Schlaf und kroch noch mehr in sich zusammen. Um ehrlich zu sein: Er hatte Angst, jemals wieder mit Lotte Marchinski zusammenzukommen.
So fand ihn am Morgen Fiedje Heckroth … einen schlafenden jungen Mann in einem völlig zugeschneiten Auto. Er war auf dem Wege nach Wildmoor und hielt seinen Wagen erstaunt an, weil aus der Birkengruppe im Sumpf Qualm aus einem Schneehaufen tuckerte. Vorsichtig war er daraufhin über den schmalen Pfad gefahren, immer wieder den Kopf schüttelnd, wie es möglich war, daß ein Fremder überhaupt soweit ins Moor gekommen war, ohne zu wissen, daß dieser oder jener Birkenstamm die Begrenzung bildete und der große Busch eine Biegung markierte. Die Provinzialstraße war der einzige Weg, der sicher war … was links und rechts von ihr lag, war nur den Moorbauern bekannt oder den Vermessungstechnikern in Stavenhagen, die über genaue Moorkarten verfügten.
»Wer sind denn Sie?« fragte Fiedje Heckroth, als er die eingefrorene Wagentür aufgerüttelt hatte. Willi war von dem Schwanken der Karosserie erwacht … entsetzt, aufschnellend, im ersten Moment dachte er, daß der Wagen im Moor versank.
»Sie schickt der Himmel!« sagte er heiser, als er das menschliche Gesicht in der Tür erkannte. »Das ist ja ein Sauland …«
»Was machen Sie denn hier? Mitten im Moor?« fragte Fiedje.
Willi stieg aus und veranstaltete einige Kniebeugen, um die Steifheit aus seinen Gliedern zu bekommen. Da er gerettet war und keine Gefahr mehr bestand, flüchtete er wieder in seine Frechheit und grinste den Moorbauern breit an.
»Ich suche Frösche! Wissen Sie … zum Schwangerschaftsfrühnachweis –«
Fiedje Heckroth schwieg. Er ging um den eingeschneiten Wagen herum, strich das Nummernschild frei und las die örtliche Zulassung. Willi winkte mit großer Gebärde ab.
»Ist geliehen, jawoll … Wollte wirklich nur 'ne Mondscheinfahrt machen. Aber das hier ist ja kein Land … das ist ja ein breitgewalzter Mist …«
»Das Land ist schön … wenn man es kennt …«
»Eben!«
»Es ist nichts für grüne Jungs …«
»Oha!« Willi schlug den Kragen hoch und stampfte mit den Füßen. Es war kalt, der Morgen kroch fahl über das verschneite Moor, ein Himmel ohne Horizont, ein Land, das ins Grenzenlose wegschwamm. »Wären Sie nicht mein Lebensretter, lägen Sie jetzt auf der Nase!« Er wollte noch mehr sagen, aber dann besann er sich, daß er ja nach Wildmoor gekommen war, um mit Hilde Kontakt aufzunehmen. Er lehnte sich an den Wagen, wiegte den Kopf hin und her und lächelte den
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