Mädchen im Moor
streckte beide Hände aus.
»Bitte, Vater …«
»Ich werde alles tun, damit du dieses Jahr vergißt.«
»Ich will es ja nicht vergessen. Nie! Ich will nicht mehr in deine Welt zurück …«
»Was … was willst du denn?« fragte v. Rothen tonlos. Er spürte, wie sein Herz rasend schlug und ihm die Luft ausblieb. Nicht aufregen, hatte der Arzt gesagt. Sie haben eine Coronardurchblutungsstörung. Jede übermäßige Erregung kann eine Katastrophe werden.
Er stützte sich auf die Sessellehne und rang nach Luft.
»Wo… wohin willst du denn?« fragte er mühsam, jedes Wort herausstoßend, weil er das Gefühl hatte, es klebe am Gaumen fest.
»Ich gehe mit Monika …«
»Wer ist Monika?«
»Auch ein Mädchen, das geglaubt hat, im Leben etwas zu verpassen. Monika dürfte mit mir entlassen werden. Ich gehe mit ihr und werde arbeiten.«
»Arbeiten? Was denn?«
»Ich mache hier eine Nählehre mit … Wenn ich aus Wildmoor entlassen bin, setze ich sie fort, mache meine Prüfung und werde Schneiderin. – Du findest das merkwürdig?«
»Ja.«
»Warum bin ich so geworden, wie ich jetzt bin? Weil ich keinen Lebensinhalt hatte, weil ich nichts, gar nichts hatte, das mich ausfüllte. Nur immer Partys, Tennis, Segeln, Sommerreisen, Winterreisen, Flirts, neue Modelle, sämtliche Jazzplatten, alle neuen Tänze … ist das eine Welt?! Wenn ich sie jetzt aus der Entfernung sehe, finde ich sie zum Kotzen! Jawohl – zum Kotzen! Das ist ein Ausdruck, den ich hier gelernt habe. Und ich habe hier noch mehr gelernt … ich kann jetzt echten Dreck von vergoldetem Dreck unterscheiden … und die Welt, die du mir versprichst und in die du mich wieder zurückführen willst, ist vergoldeter Dreck …!«
Holger v. Rothen senkte den Kopf. Er war viel zu erschüttert, um wütend auf seine Tochter zu sein. Ihre Worte waren keine Anklage mehr, sondern eine Abrechnung, und zwar eine endgültige. Nach dieser Aussprache, das ahnte er jetzt, würde er ganz allein sein. Vivian würde ihren eigenen Weg gehen, und das Millionenvermögen der Rothens war nicht stark genug, sie zu halten … So kann man eine Tochter verlieren, dachte v. Rothen, weil man sie zu sehr liebte und verwöhnte. Wir haben alles falsch gemacht, alles … und nun ist es zu spät.
Vivian sah auf das weiße Haar ihres Vaters. Sie fühlte Mitleid mit dem alten Mann, der jetzt wirklich wie ein armseliger Greis aussah und dasaß, die Hände zwischen den Knien, als sei er ein Bettler, der auf seine Suppe wartet.
»Kannst du das nicht verstehen, Vater …?« sagte sie leise.
»Doch, mein Kind, doch –« Es klang nicht überzeugend.
»Wirst du mich jetzt öfter besuchen?«
»Willst du das denn?«
»Ja, Vater.«
»Und deine Mutter willst du nicht sehen?«
Vivian warf den Kopf in den Nacken. »Nein!« sagte sie hart. »Sie ist aus der Welt, die ich hassen lernte. Sie wird sich nie ändern. Sie hat dich verlassen und betrogen … ich weiß es jetzt. Ich hasse sie –«
Die Tür klappte hinter ihnen. Dr. Schmidt kam zurück. Bei aller Großzügigkeit kam er nicht umhin, den Zeitplan von Wildmoor einzuhalten. Vivians Sprecherlaubnis war längst abgelaufen. Der Stalldienst mußte jetzt den Block 1 putzen, die unteren Flure und Wirtschaftsräume, während die anderen Mädchen für ihre Zimmer und Flure verantwortlich waren.
Holger v. Rothen erhob sich. Man sah, wie schwer es ihm fiel. Wie Blei lag die Hoffnungslosigkeit in seinen Adern.
»Auf Wiedersehen, Vater –«, sagte Vivian leise. Plötzlich schwankte ihre so beherrschte Stimme.
»Auf Wiedersehen, Vivi …«
Sie standen sich gegenüber, sahen sich groß an, und jeder wartete auf den anderen. Der Vater war es, der zaghaft seine Hand ausstreckte und einen Schritt vortrat. Vivian stürzte in seine Arme und drückte den Kopf an seine Schulter. Sie weinte, das Kopftuch war heruntergerutscht, die Haare flossen über den zuckenden Kopf, aus den leinernen Kleidern strömte der Geruch von Kuhmist und saurer Milch, v. Rothen streichelte sie und war glücklich. Nun war sie wieder das kleine Kind, das Schutz bei seinem Vater suchte, das sich an ihn klammerte und sich geborgen fühlte.
Aber die Illusion war kurz. Mit einem Ruck löste sich Vivian wieder aus seinen Armen, wischte sich die Tränen aus den Augen und band das Kopftuch fest.
»Verzeih, Vater …«, sagte sie. »Auf Wiedersehen.«
Sie drehte sich um und ging aus dem Zimmer, v. Rothen wollte ihr nach, er streckte beide Hände aus. »Kind –«, rief er … Dr. Schmidt
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