Mädchen im Moor
Stunden hier.« Dr. Schmidt setzte sich. »Ihre Tochter verweigert aber einen Besuch.«
»Bravo!«
»Sehen Sie, welch ein infamer Mensch er ist?« schrie Helena. Alle Tünche fiel von ihr ab, alle gesellschaftliche Form, alle Hemmung. Sie stampfte mit den Füßen auf und riß wieder an ihrem Pelz. »Sein Raffen nach Geld hat uns alle ins Unglück gestürzt! Sein Kind hat er vernachlässigt, mich, an nichts hat er gedacht als nur an Geldsammeln … Geldsammeln.«
»Dieses Leben hat dir ausnehmend gut gefallen. Wenn eine Frau so gut gestellt ist, sich arme Freunde leisten zu können –«
»Bitte, Herr v. Rothen.« Dr. Schmidt hob die Hand. Der Fabrikant nickte.
»Verzeihen Sie, Herr Regierungsrat. Es soll hier keine schmutzige Wäsche gewaschen werden … ich bin einen Augenblick entgleist …«
»Immer der vornehme Herr!« rief Helena. »Was willst du überhaupt hier? Habe ich kein Recht, meine Tochter zu sehen?«
»Nein!« sagte v. Rothen fest.
»Ich bin die Mutter!«
»Du hast sie geboren … das war aber auch die einzige Tat! Dann wurde sie zur Amme gegeben, später dem Kindermädchen, dann den Freundinnen … nur wenn sie gezeigt wurde, als kleines Modepüppchen, dann wurden ein paar Worte gespielter mütterlicher Wärme herbeigesucht …« Holger v. Rothen setzte sich nun doch und umklammerte nervös die Tischplatte. »Meine Tochter hat es strikt abgelehnt, mit ihr zu sprechen?«
»Ja.« Dr. Schmidt wartete auf das, was kommen mußte. Es war der nächste Satz, den v. Rothen sprach.
»Darf ich eine Sprecherlaubnis haben?«
»Selbstverständlich.«
»Dich will sie auch nicht sehen!« schrie Helena.
»Wäre es möglich, meine Frau zu entfernen?« fragte v. Rothen ruhig. Helena schoß vom Fenster weg auf ihn zu.
»Du gemeiner Kerl«, rief sie. »Du hochgezüchteter Ehrenmann! Du … du …«
Dr. Schmidt unterbrach sie. Er war aufgestanden und neben sie getreten. Um sie aus ihrer Wut zu reißen, faßte er ihren Arm und schüttelte ihn leicht.
»Mißhandeln Sie mich nicht!« schrie Helena und riß sich los. »Ich sehe schon, daß hier alles unter einer Decke steckt! Wieviel tausend Mark hat mein Mann denn für Ihr Wildmoor gestiftet?!«
Dr. Schmidt antwortete nicht darauf. Auch Helena v. Rothen erkannte, daß sie zu weit gegangen war. Bleich und zitternd sah sie, wie Dr. Schmidt auf einen Klingelknopf drückte. Sie wußte, was das bedeutete.
»Ich gehe auch so …«, sagte sie gepreßt. »Aber glauben Sie nicht, daß es klanglos ist. Ich weiß, daß es in Ihrer Macht lag, Vivian zu bewegen, mit mir zu sprechen … Sie wollten es nur nicht! Ich werde also den Weg in die Öffentlichkeit beschreiten! Ich werde die Presse für Ihre merkwürdige Anstalt interessieren –«
An Julie Spange vorbei, die die Tür aufriß, ging sie hocherhobenen Hauptes hinaus. Jetzt habe ich ihn geschlagen, diesen bornierten Regierungsrat, dachte sie dabei. Presse … das ist ein Zauberwort. Davor werden alle Beamten klein. Ein einziger Artikel in einer Zeitung … er wird ihm die Nachtruhe rauben!
Holger v. Rothen stand oben am Fenster und wartete, bis Helena in ihren Wagen gestiegen und aus dem Tor von Wildmoor gefahren war.
»Sie ist weg … endlich …«, sagte er mit einem Aufatmen. »Sie haben nun erlebt, wie hysterisch sie ist …«
»Ja«, antwortete Dr. Schmidt ehrlich. »Nur die Drohung mit der Presse gefällt mir nicht.«
»Leeres Gewäsch.«
»Oder nicht. Frauen in diesem Stadium des angeblichen Verkanntseins sind zu den absurdesten Handlungen fähig.«
v. Rothen winkte ab. »Fürchten Sie die Presse, Herr Regierungsrat?«
»Ich nicht! Aber ich habe vorgesetzte Behörden –«
»Was haben denn die damit zu tun?«
»Wildmoor ist eine Versuchsanstalt … gewissermaßen außerhalb des Strafvollzugsgesetzes. Man kennt schon eine Reihe sogenannter ›offener Anstalten‹ … aber in der Form wie Wildmoor ist sie einmalig. Sie ist meine Idee, mein ureigenstes Kind! Ich habe es gegen ungeheure Widerstände durchgesetzt, daß man Jugendliche, die gestrauchelt sind, nicht als Verbrecher, sondern als Fehlgeleitete betrachtet und an ihren guten Kern appelliert, und zwar in einer fast freiheitlichen Umgebung.« Dr. Schmidt seufzte und bot v. Rothen aus einer Kiste eine Zigarre an. »Ich habe Feinde genug, die mich als Spinner betrachten und nur auf einen solchen Presseartikel warten, wie ihn Ihre Frau loslassen will …«
»Ich darf Ihnen zusichern, daß ich voll und ganz zu Ihnen stehe –«
»Danke, Herr v.
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