Mädchen im Moor
hielt ihn am Arm fest.
v. Rothen senkte den Kopf. Er spürte wieder, wie sein Herz jagte und sich die Kehle zusammenschnürte. Wofür lebe ich eigentlich? dachte er. Wofür habe ich die Fabriken aufgebaut, bin ich in der Welt herumgejagt, habe ich ein Millionenvermögen gesammelt, habe eine schloßartige Villa gebaut, einen Park, habe Häuser am Lago Maggiore und an der Costa Brava, auf Mallorca und Ibiza? Für wen das alles? Doch nur für Vivian, nur für sie … ich selbst bin ein alter Mann, ich brauche das alles nicht mehr. Für mich reicht ein Liegestuhl unter einem schattigen Busch und später eine Grube von 2 qm Größe. Ich habe mein Kind zu meinem eigenen Engel erhoben … was ist mir nun davon geblieben? Ich habe mich durch meine blinde Liebe selbst vernichtet.
Die Stimme Dr. Schmidts riß ihn aus den niederdrückenden Gedanken.
»Herr v. Rothen –«
»Ja.« Er sah auf. Seine Augen waren leer. Uralt.
»Es klingt vielleicht dumm und plump … aber ich möchte Ihnen sagen, daß ich froh bin, daß Vivian eine solche Wandlung durchgemacht hat. Wildmoor hat sie erzogen.«
»Sie ist völlig anders.«
»Das sollte Sie nicht niederdrücken, sondern froh machen. Wenn Vivian Wildmoor im nächsten Jahr verläßt, war dieses Jahr nicht eine Strafe, sondern eine Lehre. Damit ist das Ziel bei ihr erreicht worden, was ich mit meiner Anstalt setzen will: Die Heranbildung eines vollgültigen Menschen.«
»Ich habe also versagt?«
»Alle Eltern der Mädchen, die jetzt in Wildmoor sind, haben mehr oder minder versagt. Die Basis der Jugendkriminalität ist ein mangelndes Elternhaus. Man spricht in Psychologenkreisen so oft von der ›Nestwärme‹, die ein Kind braucht … so lächerlich dieses Wort gemacht wird, so bitterernst und wahr ist es. Was den Kindern in unserem Wirtschaftswundergarten fehlt, ist die Wärme, die Geborgenheit im Schoß der Familie. Was nennt man denn heute noch Familie? Vater und Mutter arbeiten, um die Raten bezahlen zu können für das Fernsehgerät, den Stereo-Musikschrank, die Waschmaschine, die Geschirrspülmaschine, das Auto, den echten Perserteppich, das Teak-Zimmer, die Rundcouch-Garnitur, die Sommerreise an die Riviera oder Adria … die Kinder wärmen sich mittags das vorgekochte Essen auf, sind sich selbst bis zum Abend überlassen … und dann sitzen sie alle um den Fernseher, starren auf die Mattscheibe, fallen hinterher ins Bett … und um fünf Uhr klingelt wieder der Wecker, denn Vater und Mutter müssen zur Schicht … Tag für Tag … Ist das eine Familie?! Kann man es den Kindern übelnehmen, wenn sie im Pubertätsalter ausbrechen, wenn sie ›groß‹ sein wollen und dabei stolpern? Dann allerdings beginnt die sogenannte Gesellschaft, deren Opfer diese Kinder sind, zu schreien und anzuklagen, anstatt sich selbst den Spiegel vorzuhalten! Nicht die Kinder sind entgleist, sondern die Erwachsenen!«
Holger v. Rothen nickte, als Dr. Schmidt schwieg.
»Danke«, sagte er schwach. »Das war eine moderne Kapuzinerpredigt! Nur fürchte ich, daß sie wenig Erfolg haben wird, auch wenn Sie sie den Millionen ins Gesicht schreien. Eine pralle Lohntüte ist wichtiger als Moral … die menschliche Gesellschaft macht eine Umschichtung zum Materialismus durch, und es geht rasend schnell. Sie und ich … wir halten das nicht auf! Eines Tages werden wir von dieser ›neuen Zeit‹ gefressen werden … aber auch das will man nicht wissen. Man verdient, man verdient sogar viel … was gibt es Schöneres, als sich die Welt kaufen zu können?! Wenn auch auf Abzahlung …« v. Rothen zog seinen Mantel an. »Lieber Herr Regierungsrat, Sie sehen, ich rede schon wie Sie, obgleich ich zur ›anderen Seite‹ gehöre, zu den Totengräbern, die Konjunktur mit Sicherheit verwechseln. Ich weiß, daß Sie recht haben … aber wer ändert es?!«
»Die Kinder aber sind die Opfer!«
v. Rothen gab Dr. Schmidt die Hand, eine schlaffe, kalte Greisenhand. In ihm war nur noch Resignation … seine Welt, die einmal Vivian hieß, war nicht mehr. Eine andere Welt aber hatte er nicht.
»Haben Sie schon erlebt, daß die Unschuldigen nicht die Opfer wurden?« sagte er müde. »Es liegt im Wesen der menschlichen Gesellschaft, stets die Ahnungslosen zu opfern. Nennen Sie mir eine Schöpfung Gottes, die gemeiner ist als der Mensch –«
Noch lange saß Dr. Schmidt hinter seinem Schreibtisch und dachte nach, als v. Rothen gegangen war. Die Worte Dr. Röhrigs, seines ärztlichen Freundes, kamen ihm wieder zum
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