Mädchen im Moor
Vorgesetzte sich erhob. Noch unmöglicher war es, Eigenfragen zu stellen, etwa so: »Stimmt es, daß innere Freude der beste Acker für ein Umdenken ist?«
»Sie werden weitere Instruktionen bekommen, Herr Regierungsrat«, sagte Dr. Fugger mit der ganzen Steifheit eines übergeordneten Beamten. »Die ersten Ausführungsbestimmungen bleiben bestehen: Kein Außendienst mehr, normaler Strafvollzug, also auch Essen in der Zelle und Ausgabe in Thermoskübeln –« Dr. Fugger erwähnte dies mit einer besonderen Wonne, nachdem ihn der schöne Speisesaal maßlos aufgeregt hatte. »In den nächsten Tagen werden Handwerker kommen und die Zimmerfenster vergittern. Das Tor bleibt geschlossen. Die Zimmertüren erhalten Außenriegel und Klappen, einschließlich Spion. Unter Nummern. Vor allem Nummern!«
Dr. Schmidt schwieg. Ich werde meinen Abschied einreichen, dachte er verbissen und innerlich völlig erschöpft. Ich werde aus dem Staatsdienst austreten und in die freie Wirtschaft gehen. Es hat keinen Sinn, einem Staat zu dienen, in dem jeder Beamte wie ein kleiner König regiert, weil die Schranke, die der Schreibtisch zwischen Bürger und Beamten bildet, unüberspringbar ist.
»Wir verstehen uns?« fragte Dr. Fugger wonnevoll.
Dr. Schmidt nickte stumm.
»In der Presse werden wir den Bildbericht des Wochenblattes dementieren. Einseitige Tendenz, werden wir sagen. Auf Wiedersehen, Herr Regierungsrat.«
Dr. Schmidt begleitete die Herren bis zu den beiden schwarzen Wagen. Er drückte fünf Hände und ging ins Haus zurück, noch bevor die Wagen den Innenhof von Wildmoor verlassen hatten. Hedwig Kronberg und Julie Spange warteten auf ihn in der kleinen Eingangshalle.
»Stimmt es …«, fragte die Kronberg leise. Sie brauchte die Frage nicht weiter auszusprechen. Man verstand sich auch so.
»Ja –«
»Und was werden Sie tun, Herr Direktor?«
»Ich trete aus dem Staatsdienst aus.«
Julie Spange atmete tief und erregt. »Das dürfen Sie nicht, Herr Direktor.«
»Was soll ich denn tun?«
»Kämpfen!«
»Kämpfen! Das spricht sich so leicht.« Dr. Schmidt winkte müde ab. »Halten Sie einen Wirbelwind auf, indem Sie sich ihm entgegenwerfen …?«
Am nächsten Tag war Holger v. Rothen in Wildmoor.
Nach dem Anruf seines Dieners hatte er gleich das nächste Flugzeug von Rom nach Frankfurt genommen und mit einem Mietwagen sich nach Stavenhagen bringen lassen. Nun saß er Dr. Schmidt gegenüber und hatte sich einen genauen und rückhaltlosen Bericht angehört. Dr. Schmidt verschwieg nichts, vor allem nicht die Auswirkungen, die die Auflösung von Wildmoor nach sich ziehen würde und die Umgestaltung des Gutes in ein richtiges Gefängnis.
Holger v. Rothen sah ernst vor sich hin. Auch wenn Dr. Schmidt nicht aussprach, warum er ihn hergebeten hatte, wußte er, was von ihm stumm erwartet wurde. Es kostete v. Rothen eine große Überwindung, die Wahrheit Dr. Schmidts mit gleicher Wahrheit zu beantworten.
»Das kann eine Tragödie werden«, sagte er leise. »Ich stimme mit Ihnen völlig überein: Dieser Schock wirft die Mädchen, die sich in der neuen Welt wohlfühlten und sich in ihr einlebten, in die Gosse zurück. Aber was erwarten Sie von mir, Doktor?« v. Rothen hob beide Hände. »Nein, bitte, sagen Sie noch nichts. Ich will mir die Antwort selber geben. Ich soll beim Ministerium intervenieren. Ich soll – da dies wenig Erfolg haben wird – in die Öffentlichkeit treten. Mit einem Komitee einflußreicher Leute, mit Presse und Rundfunk und Fernsehen, mit der Macht meines Geldes –«
»Ja –«, sagte Dr. Schmidt leise.
»Und ich muß dann vor die Öffentlichkeit treten und sagen: Ich habe ein besonderes Interesse daran, weil meine eigene Tochter Insassin von Wildmoor ist. Ein Jahr hat sie bekommen, weil ich als Vater versagt habe. Nun liegt es in der Hand eines anderen Mannes, dieses Dr. Schmidt, daß er in einem Jahr aus meiner Tochter wieder einen vollwertigen jungen Menschen macht … Kann ich das, lieber Doktor? Kann ich mich selbst zerfleischen, gesellschaftlich unmöglich machen, mich vielleicht geschäftlich ruinieren? Und verschweigen kann ich es ja nicht, denn die Gegenseite wird damit argumentieren, daß ich der Vater eines der Mädchen im Moor bin! Es geht einfach nicht, Doktor –«
Dr. Schmidt nickte und stützte den Kopf in beide Hände. Die letzte Hoffnung starb dahin.
»Das ist das Ende von Wildmoor«, sagte er dumpf.
Eine lange Zeit war es still, die Wände des Zimmers schienen zusammenzuschrumpfen
Weitere Kostenlose Bücher