Mädchen im Moor
sie mit steifen Beinen und gesenktem Kopf durch den Sand schlürfte und an der Stalltür von den anderen Mädchen in Empfang genommen wurde. Sie wurde umringt, mit neugierigen Fragen bestürmt und in das Gebäude gezogen.
Holger v. Rothen kam aus dem Nebenzimmer. Seine Selbstsicherheit war angeschlagen, er sah bleich und irgendwie verfallen aus. »Vivi ist weg?« fragte er stockend.
Dr. Schmidt nickte. »Ja. Ich weiß nicht, was sie hat. Der Gefängniskoller kann es nicht sein – dazu ist sie zu lange hier. Ich habe an ihr nie Zeichen von innerer Auflösung bemerkt, sie war immer eine Art Aristokratin unter den anderen Mädchen von Wildmoor. Das machte es ihr manchmal schwer und gab zu Reibereien Anlaß – aber das alles kümmerte sie nicht. Und plötzlich diese Wandlung! Ich verstehe das nicht.«
»Ich mache mir Sorgen.« v. Rothen zog seinen pelzgefütterten Mantel an. »Bitte, beobachten Sie Vivi, Herr Regierungsrat. Das Mädel ist so ganz anders geworden. Wissen Sie, daß sie zu impulsiven Taten neigt?«
»Nein.« Dr. Schmidt war ehrlich erstaunt.
»Schon als Kind war Vivian das, was man vornehm kapriziös nennt. Sie handelte plötzlich ganz anders, als man es erwartet hatte. Ein Beispiel: Sie bekommt ein Kleid geschenkt, das sie sich immer gewünscht hatte. Ein rosa Spitzenkleid. Was macht sie? Sie nimmt es, schneidet es unten ab und zieht es ihrer Puppe an.«
»Es ist gut, daß Sie mir das gesagt haben.« Dr. Schmidt begleitete Holger v. Rothen bis vor die Tür. »Glauben Sie, daß diese Pressekampagne einen Erfolg haben wird?«
»Auf keinen Fall kann sie schaden.«
Hinter der Stalltür stand Vivian und blickte ihrem Vater nach, wie er über den Hof zum Tor ging. Hedwig Kronberg begleitete ihn, schloß das Tor auf, gab Holger v. Rothen die Hand. Vivian rannte in den Stall, drückte eine Kuh zur Seite und kletterte auf die Futterkrippe. Durch das schmale Stallfenster konnte sie auf die Straße sehen.
Willi, der Chauffeur, riß die Wagentür auf, v. Rothen ließ sich in die Polster fallen, ein erschöpfter, alter Mann mit einem zerknitterten Gesicht. Die Tür knallte zu, der Motor brummte auf, langsam setzte der Wagen zurück und mahlte durch den Staub.
Vivian umklammerte die Eisenstäbe des Fensters und drückte die Stirn dagegen. »Papa –«, stammelte sie. »Papa … du weißt ja nicht, was mit mir geschehen ist –« Sie drückte den Mund gegen die gelbe, ungeputzte Scheibe und erstickte so den Schrei, der ihr in der Kehle saß. Hinter ihr im Stall, an der Jaucherinne, lachten die anderen Mädchen.
»Komm runter!« rief eine von ihnen. »So schön ist dein Chauffeur Willi nun auch nicht, daß du nach ihm jammern mußt.«
Vivian stieg von der Futterkrippe und krallte die Finger in die Schürze.
»Was seid ihr doch für Schweine –«, sagte sie leise. »Es ist schon richtig, daß man euch in den Sumpf gesteckt hat.«
An diesem Tag wurde Vivian v. Rothen zum erstenmal seit ihrer Einlieferung in Wildmoor von ihren Blockgefährten verprügelt. Sie ließ es in stiller Verbissenheit über sich ergehen, sie machte keine Meldung und sie log, als Julie Spange sie am Abend verwundert ansprach.
»Ich bin gestolpert und hingefallen«, sagte Vivian, drückte das nasse Taschentuch auf ihr geschwollenes Auge und ging in den Waschraum. »So ein dummer Besenstiel lag herum.«
Ich muß hier raus, dachte sie in der Nacht und starrte gegen das vom Mond erleuchtete Viereck des Fensters. Es hat sich alles geändert seit jenem Tag in der Scheune Fiedje Heckroths. Ich habe immer geglaubt, es gäbe einen Weg zurück. Das war eine dumme Illusion. Sie lassen uns ja nicht zu uns selbst finden, wir wollen anders sein, wir wollen neue Menschen werden, aber die da draußen wollen es ja gar nicht, für sie sind wir Verlorene und alles, was wir sagen, ist für sie Lüge. Nie hätte Sigi Plattner es früher gewagt, mich so zu behandeln – ich war immer die Tochter des großen Holger v. Rothen, aber jetzt bin ich die Strafgefangene, die man wie eine landstreichende Dirne ins Stroh drücken und nehmen kann.
Sie drehte sich vom Fenster weg und sah auf die anderen Betten. Die Mädchen schliefen fest, einige schnarchten. In der Ecke träumte eine und murmelte unverständliche Worte.
»Ich wollte dieses Jahr in Wildmoor als eine große Kur betrachten«, dachte Vivian v. Rothen. »Ich wollte büßen und dann einen neuen Weg gehen. O Gott, und was ist daraus geworden? Jetzt bin ich ein Tier, das sich nach Freiheit und Rache
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