Mädchen im Moor
und die beiden ernsten, nach einem Ausweg suchenden Männer zu erdrücken. Holger v. Rothen stand am Fenster und sah hinaus auf den Gutshof. Aus den Ställen klang Lachen, vier Mädchen schoben eine Karre mit Heu aus der Scheune, drückten sie durch den Sand, ihre Gesichter waren von der Hitze und der Anstrengung gerötet. Plötzlich zuckte er zusammen, beugte sich vor, riß die Gardine zur Seite und drückte die Stirn gegen die kalte Scheibe.
»Vivian –«, sagte er leise. »Doktor, da unten schiebt Vivian eine Karre mit Heu –«
Dr. Schmidt nickte. »Sie wird Stalldienst haben. Nach dem Willen des Ministeriums soll auch das aufhören. Normaler Strafvollzug, Arbeit im Haus, täglich zweimal Spaziergang auf dem Hof, das berühmte Im-Kreis-Gehen, drei Schritte Abstand vom Vordermann, Hände auf dem Rücken, Sprechverbot.« Er wischte sich mit der rechten Hand über die Augen, als müsse er etwas Ekliges verscheuchen. »Ich wage gar nicht daran zu denken, wie sich der Schock auf die Mädchen auswirkt, wenn sie erst die volle Wahrheit erfahren.«
»Sie wissen es noch nicht?«
»Nein. Aber sie ahnen etwas. Die Ungewißheit ist lähmend. Man hat sie von den Außenkommandos ohne Gründe zurückgepfiffen. Sie wissen doch, wie das ist, beim Militär haben wir es doch stets erlebt: Latrinenparolen nannten wir es. Jeder weiß mehr als der andere, die Gerüchte werden immer größer. Aber wie es wirklich sein wird, daran denkt keiner – weil es für die Mädchen einfach undenkbar ist. Vorerst glauben sie nur an eine andere Arbeitseinteilung.«
»Wann soll die … die Umgestaltung beginnen?«
»Ich rechne mit der Anlieferung der festen Türen und der Gitter in den nächsten zwei bis drei Wochen. In solchen Fällen arbeiten die Behörden verblüffend schnell. Die Vergünstigungen der Offenen Anstalt sind ab sofort gestrichen. Wie Sie sehen – das große Tor ist bereits zu.« Dr. Schmidt trat neben v. Rothen an das Fenster. Es war ein schöner, sonniger Frühlingstag. Der Sand glitzerte bläulich und blendete. Vor der Küche saßen sechs Mädchen in der Sonne, große Eimer zwischen den Beinen, geflochtene Körbe neben sich und schälten Kartoffeln. Auf dem Fenstersims des Küchenfensters stand ein kleines Kofferradio. Tanzmusik flatterte dünn durch die sonnenhelle Frühlingsluft. Ein friedliches Bild, wie eine Illustration aus einem Bauernkalender.
»Auch das dürfte nicht mehr sein«, sagte Dr. Schmidt heiser. »Küchendienst nur innerhalb des Hauses. Keine Musik. Jede Arbeit soll im Bewußtsein der Strafe ausgeführt werden.«
»Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter!« rief Holger v. Rothen und trat zurück in das Zimmer. »Ich denke, man beschäftigt sich neuerdings so eingehend mit der Jugendpsychologie?«
»In der Pädagogik, Herr v. Rothen. Die Justiz ist von jeher die letzte Behörde gewesen, die sich zu Reformen bereit fand. Juristen sind von Natur aus mißtrauisch, vor allem, wenn es um den Menschen geht. Wir haben es jetzt in Wildmoor erlebt – ein lancierter Artikel Ihrer Gattin, und schon bricht der Fortschritt zusammen! Gitter vor den Fenstern, eine dicke Tür mit Sehklappe, ein Aborteimer in der Zimmerecke – und schon ist das deutsche Strafvollzugsgemüt beruhigt.« Dr. Schmidt schüttelte resignierend den Kopf. »Ich weiß nicht, Herr v. Rothen, aber ich glaube, ich bin hier wirklich fehl am Platze. Ich bin kein guter Beamter – ich denke zuviel selbst! Es gibt nichts Schlimmeres als einen Beamten, der über seine Verfügungen hinaus denkt und sich in erster Linie als Mensch unter Menschen fühlt. Ich werde um meine Entlassung nachsuchen. Was mich dabei maßlos erschüttert, ist nur der Umstand, daß Ihre Gattin dies zuwege gebracht hat.«
»Das haben Sie deutlich und doch diskret ausgedrückt, Herr Regierungsrat.« Holger v. Rothen setzte sich wieder und starrte auf seine Schuhspitzen. »Ich weiß, daß es meine Pflicht ist, hier zu helfen. Ich überlege die ganze Zeit, wie ich es könnte, ohne einen gesellschaftlichen Skandal heraufzubeschwören. Mein Name darf nicht genannt werden.«
»Man müßte die Öffentlichkeit über den wahren Charakter von Wildmoor informieren«, sagte Dr. Schmidt vorsichtig, v. Rothen zuckte auf.
»Genau! Das ist es! Wenn ein einziger Artikel schon eine solche Wirkung hatte, um wieviel mehr muß eine Serie von Berichten erfolgversprechend sein. Ich werde mein Möglichstes tun, Herr Regierungsrat.« Holger v. Rothen erhob sich wieder und ging zum Fenster. Vivian
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