Mädchen im Moor
es.«
»Ja. So etwas gibt es.« Dr. Schmidt griff zum Telefon. »Soll ich also wirklich Monika Busse rufen?«
»Ich bitte darum.«
Dr. Schmidt hob die Schultern. Wie wenig kennt man in Wirklichkeit die Menschen, dachte er. Und wie herrlich – oder grausam sind dann die wenigen Stückchen, die man von ihrer Seele entdeckt.
»Monika Busse zu mir!« sagte er laut ins Telefon. »Sie soll sich umziehen. Das Sonntagskleid. Es ist etwas Besonderes –«
Während sie auf Monika Busse warteten, rauchten sie stumm und hingen ihren Gedanken nach. Dr. Schmidt hatte eine solche Situation noch nicht erlebt. Er hätte sie auch für unmöglich gehalten, für einen zwar gut erfundenen, aber durch und durch unglaubwürdigen Scherz, wenn man ihm dies erzählt hätte. Ihm kam das alles unwirklich vor, und er brauchte den Anblick des Gutshofes, der Gebäude, der in der Sonne vor der Küche sitzenden und kartoffelschälenden Mädchen, das Brummen der Kühe aus dem Stall, die den Hof mit großen Reisigbesen kehrenden Zöglinge, um sich immer wieder zu sagen: Es ist wirklich wahr.
Er stand am Fenster, beobachtete, wie man Monika Busse aus dem Speisesaal holte, wie sie über den Hof ging und mehrmals Julie Spange fragte. Sie blickte zu seinem Fenster hinauf, zögerte im Gehen, als sie sein Gesicht sah, es war, als wolle sie mit diesem Blick etwas fragen: Das Sonntagskleid? Ist Besuch gekommen? Sind sie endlich gekommen … Vater und Mutter … Haben sie mich nicht völlig vergessen und ausgestoßen?
Dr. Spieß räusperte sich. Die Stille legte sich wie ein Zentnergewicht auf sein Herz. Regierungsrat Schmidt wandte sich langsam um.
»Sie ist gerade ins Haus gegangen«, sagte er. »Es wird noch eine Viertelstunde dauern. Darf ich Ihnen einen Kognak anbieten?«
»Nein, danke. Vielleicht später.« Dr. Spieß zerdrückte nervös seine Zigarette. »Er hat geweint«, sagte er unvermittelt. »Sie kennen den alten Busse nicht und können nicht ermessen, was das heißt. Wie ein kleines Kind hat er geweint. ›Sie geben mir meine Tochter wieder‹, hat er geschluchzt.«
»Darf ich dazu etwas sagen?«
»Bitte.«
»Es wäre furchtbar, wenn Sie auch aus dem Gefühl des Mitleides handeln würden.«
Dr. Spieß schüttelte den Kopf. »Ich habe mir diese Frage ganz klar vorgelegt. Wir Juristen sind auch in der Liebe etwas bürokratisch. Natürlich bedauere ich diesen Schicksalsschlag Monikas, aber was mich zu dem heutigen Schritt veranlaßt, ist ein stärkeres Gefühl als Mitleid. Ich habe das empfunden, als ich sie zum erstenmal sah, hier, bei Ihnen, als ich sie verhörte und versuchte, den Riegel des Schweigens um sie zu zerbrechen. Damals habe ich plötzlich gespürt, daß es nicht mehr Nachbarskinderfreundschaft ist, die mich diesen Fall übernehmen ließ, und ganz deutlich merkte ich es, als ich aus Monika herausfragte, daß ihre Tragödie nichts anderes war als eine Hörigkeit diesem Rolf Arberg gegenüber, dem ersten Mann in ihrem Leben. Dieses Erleben war für sie so groß, so innig, so wunderbar und nicht mit ihrer jungen Seele verarbeitbar, daß sie willenlos alles tat, was Arberg von ihr verlangte. Als ich das erkannte, war ich nicht erschüttert, nein, so konnte man das nicht nennen – ich war innerlich wie zerrissen. Ich hätte diesen Arberg erwürgen können! Es war ein Gefühl, als wenn man von dem Liebsten, was man besitzt, betrogen wurde. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich Monika liebe.«
»Und Sie glauben, daß Monika die gleichen Gefühle für Sie hegt?«
»Nein.«
»Ja, um Himmels willen, wo soll das denn hin?!« Dr. Schmidt schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Eine solch einseitige Sache wird doch leicht zur Katastrophe .«
»Monika hat jetzt niemanden mehr, an den sie sich wenden kann. Ihre Welt ist zusammengeschrumpft. Sie besteht aus der Anstalt, aus Ihnen, Dr. Schmidt, aus ihrer Heimmutter, aus dem Moorbauern Heckroth, aus ihren Kameradinnen. Alles, was einmal etwas für sie bedeutete, hat sie verloren. Und dieser Zusammenbruch ist ihr im Grunde ihrer Seele unbegreifbar. Sie hat in ihrer ersten Liebe zu diesem Arberg wie in einem Traum gelebt. Daraus wurde sie weggerissen und findet sich im Gefängnis wieder. Und keiner ist da, der zu ihr sagt: Das Leben geht nach einem Jahr weiter!«
»Was hat das mit einer Liebe zu Ihnen zu tun?« Dr. Schmidt schüttelte den Kopf. Er ist ein Fantast wie ich, dachte er plötzlich. Dr. Röhrig würde sagen: Die siamesischen Zwillinge der Nächstenliebe! Er griff zum
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