Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
und wollte dennoch seinen Augen nicht trauen. Ihre Stimme klang ein wenig tiefer, und ihr Gesicht war sanft gealtert, aber es stand außer Frage, wer sie war. Schlank und dunkelhaarig, das Kinn trotzig vorgeschoben, als erwartete sie, jeden Augenblick in eine Auseinandersetzung verwickelt zu werden. Und ihre Augen, von dunklen Wimpern umkränzt, wirkten fast farblos, wie Regen. Als er merkte, dass sich sein Puls beschleunigte, ermahnte er sich zur Ruhe. Erinnere dich an früher. Und sei kein Idiot.
Sein weiser Ratschlag hinderte ihn jedoch nicht daran, einen Blick auf ihre linke Hand zu werfen. Kein Ring. Tief in seinem Inneren entspannte er sich ein wenig. »Du bist Polizistin geworden, wie ich hörte.«
»Wie der Vater, so die Tochter, nicht wahr?«
Mitch zuckte bei dem unterschwelligen Vorwurf zusammen, aber ihm fiel nichts Tröstliches ein, das er ihr hätte entgegnen können. Wie schlimm es auch immer mit ihrem Vater gewesen sein mochte, Trost war das Letzte, was Dani von ihm wollte, daran konnte er sich noch allzu gut erinnern. Verdammt, hau ab. Hier gibt’s nichts für dich zu tun. Geh woandershin, wenn du Gutes bewirken willst …
Mitch verkniff sich weitere Erinnerungen und hielt sich wieder den Zweck seiner Reise vor Augen. Warum er hier stand. Und warum sie vor ihm stand. »Hat Brad mit dir gesprochen? Habt ihr Russell schon gefunden?«
»Wir suchen noch nach ihm.«
»Scheiße.« Er warf den Kopf zurück. »Was zur Hölle ist eigentlich passiert?«
»Ich muss dich aufs Revier bringen, damit du uns alles über das letzte Telefonat berichtest, das du mit ihm geführt hast. Sanders’ Sohn sagt, du glaubst, es könnte ihm etwas zugestoßen sein.«
»Ja, etwas stimmte nicht, ich habe es selbst gehört, Himmelherrgott. Er rief mich an, und ich dachte, es ginge um die Fotos für die Ausstellung, die dieses Wochenende eröffnet wird.« Mitch fasste sich unwillkürlich an die Brust, als glaubte er, dort seine Kamera zu haben, aber er griff ins Leere. Daran würde er sich gewöhnen müssen. »Doch es ging nicht um die Fotos. Er sagte, dass er in Schwierigkeiten steckte.«
»Komm mit. Du musst uns alles erzählen.«
»Ich muss erst ins Hauptquartier – der Stiftung, nicht der Polizei. Ich kann dir unterwegs alles über den Anruf erzählen, aber zunächst muss ich in Russ’ Apartment.«
»Das geht nicht. Die Kollegen sehen sich dort gerade noch um.«
Beunruhigt schaute er auf. »Warum das?«
»Komm mit aufs Revier. Mein Partner und ich werden dir vor Ort alles berichten.«
»Das kannst du auch hier tun«, erwiderte er barsch. Dani wollte sich abwenden, aber Mitch packte sie am Arm, und jede Faser ihres Körpers erstarrte. Ihr Blick ähnelte dem eines verwundeten Tiers, und mit einem Schlag waren die letzten achtzehn Jahre wie weggefegt. Es kam ihm vor wie ein Déjà-vu-Erlebnis.
Mitch lockerte seinen Griff. »Was weißt du über Russ?«, fragte er.
Sie trat einen Schritt zurück. »So gut wie gar nichts, außer dass du sein Apartment noch nicht betreten darfst.« Sie seufzte. »Vertrau mir.«
Ihre Worte brannten auf seiner Haut, als hätte er sie sich aufgeschürft. »Wann habe ich das wohl zuletzt gehört?«
Sie zuckte zusammen. Mitch verfluchte sich innerlich. Fast zwei Jahrzehnte waren vergangen, und er begriff nicht, warum er mit einem Mal so dünnhäutig reagierte.
Als sich Dani anschickte, das Flughafengebäude zu verlassen, beschleunigte Mitch seine Schritte. Sie drückte auf die elektrische Autotürverriegelung an ihrem Schlüssel, und Mitch warf seine Reisetasche in den Kofferraum. Dani war gerade im Begriff, hinter dem Steuer Platz zu nehmen, hielt aber plötzlich inne.
Eine Sekunde später begriff Mitch: Unter dem Wischblatt des Scheibenwischers steckte ein Umschlag.
Mitch sträubten sich die Nackenhaare, als er Danis Gesichtsausdruck sah. »Was ist los?«, fragte er über das Autodach hinweg.
»Ich weiß es nicht.« Sie schloss die Fahrertür, zog ein Blatt Papier aus dem Umschlag und faltete es auseinander. Abrupt keuchte sie auf.
»Dani?« Mitch umrundete den Wagen. »Was zur Hölle –«
»O Gott«, stieß sie aus, faltete das Papier wieder und lehnte sich gegen das Auto. Bei dem ängstlichen Klang ihrer Stimme zog sich alles in Mitch zusammen. Er streckte den Arm nach ihr aus, doch in diesem Augenblick fiel etwas aus dem gefalteten Papier, und Dani bückte sich rasch danach, um es aufzuheben. Sie stopfte es in den Umschlag zurück und verharrte in der Hocke. Mitch zog sie
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