Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
nicht immer so dankbar, wie du es von ihnen erwartest, nicht wahr?«
Mitch versteifte sich. »Ich habe dich nie um Dankbarkeit gebeten. Alles, was ich wollte, war ein wenig Vertrauen.«
»Ich habe nicht mich gem…«, begann sie, schloss dann aber den Mund. Einen Herzschlag lang wollte er sie drängen, ihm zu erzählen, wie es ihr in den vergangenen achtzehn Jahren ergangen war. Seit jener Nacht, als sie ihn von sich gestoßen hatte. Wollte herausfinden, ob sie sich je gewünscht hatte, die Zeit zurückdrehen zu können. Und ob sie ihm dann gestattet hätte, ihr zu helfen.
Schließlich kehrte seine Vernunft zurück. Er stieß den Atem aus. Er war nicht hergekommen, um das alte Feuer der Leidenschaft neu zu entfachen, oder um Fotos zu machen, eine Geschichte zu erzählen oder irgendetwas wieder geradezubiegen. Er war hier, um Russ zu finden.
Tifton steckte den Kopf zur Tür herein und winkte Dani mit dem Zeigefinger zu sich. Sie verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu, doch Mitch konnte die beiden verstehen. Er lauschte.
»Ein Fischer hat eine Leiche aus dem Monocacy River gezogen. Ein paar Meilen südlich der Highland Bridge«, sagte Tifton mit gesenkter Stimme. »Die Beschreibung ist nicht sehr genau, aber es könnte Sanders sein.«
Mitchs Magen zog sich erneut krampfartig zusammen. Nein. Lieber Himmel, nein …
»Ah, verstehe«, erwiderte Dani. »Wir müssen hinfahren.«
»Ich beende kurz das Gespräch mit Sheridan«, sagte Tifton, aber bevor er den Raum betreten konnte, öffnete sich die Tür schwungvoll, und Mitch erschien.
»Ich komme mit.«
Alicia Woodruff öffnete die Pappschachtel, die sie unter ihrer Matratze versteckt hielt: nichts. Der letzte Stein war verbraucht, und ihr Freier von heute Morgen hatte ihr Gras geraucht. Sie fühlte in der Spitze ihres Pumps nach, was von ihrem Bargeld übrig war. Einhundertachtzehn Dollar. Nicht viel. Die reichten gerade mal für eine Fingerspitze billiges Heroin oder ein paar Linien Koks. Kaum genug, um die Nacht zu überstehen. Dabei hatte sie schon vor Jahren gelernt, dass in diesem Geschäft die Nächte nur mit einer ordentlichen Dröhnung zu überleben waren.
Alicia war neunzehn Jahre alt, eine Nutte, ein Junkie und gelegentlich auch eine Diebin. Und sie war Mutter.
Nun, eigentlich nicht – wenigstens, was die Mutterpflichten anging. Sie hatte vor acht Monaten ein Baby bekommen, es aber zur Adoption freigegeben. Alicia hatte nicht einmal zwei Minuten mit der Kleinen verbracht, bevor der Arzt sie ihr abnahm. Zwei Tage später war sie mit fünftausend Dollar in der Tasche – von jemandem, der als »der Broker« bekannt war – in das billige Lagerhaus-Apartment zurückgekehrt, das sie sich mit fünf anderen Mädchen teilte, und hatte mit dem Geld nur so um sich geworfen. Hatte es fast geschafft, das Kind zu vergessen.
Bis vor ein paar Monaten die Babysachen auftauchten. Beim ersten Teil wäre sie fast ausgeflippt, und es hatte sie beinahe von ihrem Herointrip runtergeholt. Nach einer langen Nacht auf dem Rücken war sie in ihr Apartment zurückgetaumelt und hatte einen pinkfarbenen Heliumballon am Türgriff gefunden. Einige Wochen später hatte eine Grußkarte im Türrahmen gesteckt. Herzlichen Glückwunsch zur Geburt. Danach eine Babyflasche. Und erst letzte Woche hatte sie ein Päckchen mit gehäkelten Babyschühchen erhalten.
Jemand wollte, dass sie sich schlecht fühlte. Aber das ließ sie nicht mit sich machen. Der Broker hatte ihr auf Fotos gezeigt, wohin sie ihr Baby bringen würden. Eine riesige Villa in Connecticut. Reiche Eltern. Eigener Swimmingpool. Viel besser als diese Scheiße hier.
Sollte sich doch derjenige ins Knie ficken, der ihr diese Sachen schickte. Scheiße, das Kind war so viel besser dran.
Sie quetschte ihre Füße in die Schuhe mit den Dollarnoten und steckte eine Packung Zigaretten in ihre Plastikhandtasche. Ein Blick auf die Uhr: genug Zeit. Sie würde jetzt losziehen und sich den Kick für die Nacht holen, dann zurück auf die Straße und ausreichend Geld verdienen.
Sie ging zur Tür und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.
Ein Teddy.
Alicias Herz setzte einen Schlag lang aus. Sie blickte in den Flur. Niemand. Dann bückte sie sich und hob den Spielzeugbären auf, an dessen Hals eine Nachricht prangte.
RR DEPOT, 8:30. Es geht um deine Tochter.
O Gott. Sie rang nach Luft, dann las sie die Nachricht noch zweimal. Und konnte es nicht glauben. Verdammt, wer außer den anderen Mädels hier wusste
Weitere Kostenlose Bücher