Mädchen und der Leibarzt
Blatternelends aus meinem ruhigen Behandlungssaal in diesen Moloch gehen, wo man allerorten nach mir schreit? Aber schließlich bedarf es für meinen zukünftigen und wahrhaft königlichen Dienstherrn auch eines fürstlichen Medizinkoffers.«
»Sie glauben also auch, dass das Stift aufgelöst wird?«
»Deine Frage ist wie immer überflüssig.« Der Leibarzt bog in eine weitere Seitengasse ein. Dem beißenden Geruch zufolge konnte das nur die Pölle sein, wo sich entlang des Mühlgrabens die Gerber angesiedelt hatten. Und tatsächlich blieb der Äskulap kurz darauf vor einer kleinen Gerberstube stehen.
Da sich das große, kunstvoll bemalte Haus eines Weißgerbers aber schräg gegenüber befand, drei Stockwerke hoch und mit sauber ausgelegter Ware vor dem Eingang, allesamt edle und dünne Kalbs- oder Ziegenleder, glaubte Helena zunächst, er habe sich in der Adresse geirrt. Der Äskulap jedoch rief nach dem Gerber, der sofort aus seinem kleinen, halb verfallenen Haus gehumpelt kam, um den Leibarzt
untertänigst zu begrüßen. Der Mann sah aus, als sei er eben seinem eigenen Grab entstiegen. Hager, blass und mit eingefallenen Wangen stand er neben seiner Ware und streckte dem Leibarzt die Hand entgegen. Der Äskulap schüttelte jedoch angewidert den Kopf und hielt seine Arme hinter dem Rücken verschränkt. Mit Entsetzen bemerkte Helena, dass die Hände des Gerbers über und über mit Geschwüren bedeckt waren. Es sah aus, als wüchsen Walnüsse auf seiner Haut.
Der alte Mann verbeugte sich so tief er nur konnte. »Entschuldigen Sie, werter Monsieur Dottore Tobler. Ich hab nur gedacht, wo Sie doch schon einmal da sind, ob Sie wohl die Güte hätten und Ihren geschätzten Blick auf meine kranken Hände richten könnten? Der Herr Chirurg weiß sich darüber nämlich keinen Rat mehr.«
»Sie kennen meine Tarife?«
»Gewisslich. Aber mit diesen Händen kann ich bald nicht mehr arbeiten. Deshalb hege ich große Hoffnung in Ihre Künste. Bitte, seien Sie so gnädig. Ich werd den Untersuchungsbetrag großzügig von der Kaufsumme für das bestellte Leder abziehen, wenn es genehm ist. Ich verwende zum Gerben nur die beste Fichtenrinde. Bitte, seien Sie doch so gut.«
»Wie Sie wollen. Das macht dann eine Untersuchungsgebühr von fünfzehn Kreuzern. Habe die Ehre.« Der Äskulap wandte sich dem Leder zu.
»Aber Sie haben sich meine Hände doch gar nicht besehen? «
»Da gibt es auch nicht viel zu besehen. Hände sehen so aus, wenn man sie täglich in Taubenscheiße badet. Das ist das Los der Gerber. Ich empfehle Ihnen, die Weberei zu
wechseln. Vom Sitzen bekommen Sie höchstens Ausfluss aus der güldenen Ader. Aber das kann ich Ihnen gern behandeln. «
Helena hatte atemlos zugehört. Wie von einem inneren Mechanismus angetrieben, schob sie sich vor den Äskulap, denn sie hatte sich geschworen, keine Fehler mehr zu machen.
»Werter Herr Gerber, ich rate Ihnen, sich aus einem festen Lederstück Handschuhe anzufertigen«, mischte sie sich ein. »Alsdann könnten Sie Ihre eigene Haut schützen, wenn Sie die Tierhäute in die mit Taubenkot verschärfte Lohe legen.«
Der Gerber sah Helena verwundert an. Schließlich nickte er bedächtig. »Das ist ein guter Gedanke, junges Fräulein.«
»Das Fräulein sollte sich besser um seine eigene Haut kümmern. Weiberhäute sind nämlich dazu da, dass man sie mit roher Hand durchprügelt, bis aus dem Gebälk kein Gänsegeschnatter mehr zu hören ist. Und nun entferne sich das Weib, bevor ich mich vergesse!«
Sie kam einfach nicht gegen diesen Äskulap an. Hilflos stotternd antwortete sie: »Aber werter Monsieur Dottore Tobler, ich … ich weiß doch nicht, wo sich das Haus des Chirurgen befindet.«
»Blind und taub wie Maulwürfe, aber dafür genauso viel Dreck aufwühlen! Die armselige Holzhütte des Chirurgen befindet sich auf dem Münzenberg, zwischen all den anderen Zigeunern, wo sonst?«
Gedemütigt machte sich Helena auf den Weg. Dem Äskulap sollten doch selbst die Hände abfaulen und die Zunge möge man ihm veröden! Warum ließ der liebe Herrgott so jemanden Medicus sein? Selbst ein dahergelaufener Wanderchirurg
behandelte seine Patienten nicht so betrügerisch und herablassend wie dieser Äskulap. Und nur weil man ihn Leibarzt nannte, meinte er, er dürfe sich alles erlauben! Aber bald, bald nicht mehr. Wenn ihr der Versuch gelingen würde, müsste er seinen Hut nehmen.
Trotz der kühlen Luft wurde ihr warm, als sie im Eilschritt durch die halbe Stadt zurücklief, auf
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