Mädchen und der Leibarzt
Höhe des Stifts zum Münzenberg abbog und den steilen Weg hinaufging. Hier oben standen nur eine Handvoll Häuser und dennoch irrte sie durch die Gassen, ohne die beschriebene Holzhütte zu finden, in der sich der Chirurg angeblich angesiedelt hatte. Verdammt, es konnte doch nicht so schwer sein, dieses Haus zu finden! Wenn sie nur nicht unverrichteter Dinge zum Äskulap zurückgehen müsste … Gott sei’s gedankt kam ihr in diesem Augenblick ein Waschweib mit einem Korb voller Laken am kleinen Marktplatz entgegen.
»Verzeihung, könnten Sie mir wohl sagen, wo sich hier die Holzhütte des Chirurgen befindet? Er sollte eigentlich nicht weit von hier …«
»Holzhütte?« Die Frau lachte mit derber Stimme. »So arm ist unser Chirurg nun auch wieder nicht. Ich würde es an Ihrer Stelle schräg gegenüber versuchen.«
Dort stand ein hübsches, kleines gelbes Steinhaus, und Helena war kurz davor, den Leibarzt wieder einmal laut zu verfluchen. Stattdessen aber bedankte sie sich anständig bei der Frau für die Auskunft und ging auf das Haus zu, das aus einem Erdgeschoss und einem Giebelstübchen bestand. Der Putz bröckelte von der Wand und vermischte sich mit dem Staub der Straße. Helena griff nach dem Türklopfer; sie wollte die Sache jetzt möglichst schnell hinter sich bringen. Als sich nichts rührte, klopfte sie noch einmal. Vielleicht
hörte er nichts? Neben der Türe hing eine Notglocke, und kurz entschlossen zog sie kräftig am Seil. Sie hatte schließlich ein eiliges Anliegen! Im Haus nebenan öffnete sich ein Fenster, und eine alte Frau sah heraus.
»Was ist? Ach, du lieber Herrgott, sagen Sie bloß, Sie haben auch noch eine Niederkunft zu vermelden? Dabei wurde der Herr Chirurg doch gerade erst zu einer schweren Geburt in das Gasthaus Zum Bär gerufen! Aber wenn Sie eine Hebamme brauchen, die sitzt hier bei mir. Sie hat den Herrn Chirurgus alarmiert, weil das Kind widernatürlich geboren werden will.«
»Ich will nur mit ihm sprechen. Zum Bär am Marktplatz, sagen Sie?«
»Ja, Sie können aber gern bei mir warten!«
»Das ist nicht nötig. Ich werde ihm ein Stück entgegengehen. Ich muss sowieso in diese Richtung. Haben Sie vielen Dank!«
Helena wollte im Beisein einer anderen Hebamme keine langen Erklärungen abgeben, sie hatte sich in Windeseile entschieden, bei der schweren Geburt zu helfen. Langsam bog sie um die Straßenecke, dann rannte sie los. Den Münzenberg hinunter und durch die Stadt, vorbei an den Leuten, die sich am Wegrand unterhielten und ihr verdutzt hinterhergafften. Einem Reiter konnte Helena gerade noch ausweichen, dafür hatte sie kurz darauf einen streunenden Köter an den Fersen, der bellend seinem Jagdtrieb nachging. Erst als sie ein paar Futter pickende Hühner aufscheuchte, entschloss sich der Hund für diese Beute.
Atemlos erreichte sie das Gasthaus Zum Bär . Ein paar Leute waren vor dem stattlichen Haus am Marktplatz stehen geblieben und steckten die Köpfe zusammen. Unter
ihren neugierigen Blicken ging Helena einfach hinein, ohne zu wissen, welcher Teufel sie gerade ritt und ihr glauben machte, sie könne dem Chirurgen zur Seite stehen. Markerschütternde Schreie der Gebärenden drangen aus einem der Erdgeschosszimmer auf sie ein, dazwischen eine tiefe Stimme, die stakkatoartig Befehle gab. Es galt keine Zeit zu verlieren. Helena riss die Tür zur Stube auf und versuchte die Situation zu erfassen. Die Frau lag auf der Bettstatt, den Kopf im Nacken, die Hände zu Fäusten geballt und schrie sich die Seele aus dem Leib.
Ein junges Dienstmädchen lief aufgeregt um das Bett herum und versuchte den Aufforderungen des Chirurgen nachzukommen, gleichzeitig darum bemüht, die Scham der Gebärenden geflissentlich mit einem Tuch vor den Augen des Mannes zu verdecken. Helena verdrehte die Augen. Wie oft hatte sie den Frauen gepredigt, in einer solchen Situation den Doktor nicht als Mann zu betrachten, vor dem sie ihre Scham verbergen müssten. Aber mit Vernunft war der Moral nicht beizukommen. Auch hier blieb dem Chirurgen wohl nichts anderes übrig, als sich an das ungeschriebene Gesetz zu halten, die Ehre der Gebärenden nicht zu verletzen. Er kniete vor ihr und schien sich ganz auf seinen Tastsinn zu verlassen. Aber nicht nur deshalb hatte Helena Zweifel: Wenn sie sich den Mann so ansah, könnte der eher zur Belustigung und Unterhaltung des Publikums auf dem Jahrmarkt beitragen als dass er unter den Röcken einer Gebärenden etwas ausrichten könnte. Er hatte feuerrote Haare
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