Mädchen und der Leibarzt
nur beinahe. Weil es Ihnen, wie bereits erwähnt, offenbar an gewissen Qualitäten mangelt. Wenn Sie stattdessen nun endlich …«
Aurelia hörte dem Leibarzt nicht mehr zu. In ihr arbeitete es. Wernigerode. Helena hatte von Wernigerode gesprochen. »Helena hat ihren Verlobten verlassen?«, fragte sie.
»Sind Sie interessiert? Soweit ich weiß, hat er noch keine neue Frau. Und mit Ihren Händen könnten Sie seine Wut gewiss besänftigen, wenn Sie nur noch ein wenig mehr bei mir übten.«
»Halten Sie gefälligst Ihr Maul!«
»Na, na, ich meine es doch nur gut mit Ihnen. Oder wer hat dafür gesorgt, dass Sie weiterhin im Stift bleiben dürfen? Sagen Sie fein artig Dankeschön zu mir und meinem kleinen Freund.«
»Niemals! Eher will ich als Bettlerin enden!« Aurelia raffte ihr lilafarbenes Kleid und eilte zur Tür.
»Sie werden bald zur Vernunft kommen, Sie werden sehen!
Und bis dahin können wir warten«, rief der Leibarzt ihr mit seidener Stimme nach.
Medicus Roth aus Wernigerode, Medicus Roth aus Wernigerode , wiederholte Aurelia unablässig, während sie hinaus auf den Stiftshof ging. Wolken hatten sich dicht zusammengezogen. Regen drohte. Sie sah, dass Borginino am Brunnen Wasser schöpfte. Das kam ihr gelegen.
Der hagere Mann hielt in seiner Arbeit inne und starrte ihr mit seinem lächelnden Gesicht ungläubig entgegen. »Verzeihung, aber werte Gräfin dürfen sich nicht im Stiftshof aufhalten! Das ist viel zu gefährlich! Die Fürstäbtissin hat gesagt …«
Aurelia brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen. »Das kümmert mich nicht. Du hörst jetzt genau zu, was ich dir sage: Der Stiftsbote soll noch heute nach Wernigerode reiten. Zum Sohn eines gewissen Medicus Roth …«
Der Diener legte den Kopf schief und zog ein wenig das Genick ein. »Verzeihung, aber das geht nicht. Der Stiftsbote wurde von den Blattern dahingerafft.«
»Sodann übernimmst du selbst diese Aufgabe. Du richtest dem Sohn des Medicus Roth aus, dass er bei uns im Stift findet, was er seit geraumer Zeit vermisst. Beeil dich! Und bis heute Abend gesellst du dich wieder unter die anderen Diener, als seiest du nicht fort gewesen. Hast du mich verstanden?«
»Und was bekomme ich dafür?«
»Morgen früh erhältst du deinen Lohn«, erwiderte sie.
Der Diener verbeugte sich. »Wie Sie wünschen.«
Aurelia wandte sich mit einem flüchtigen Nicken ab, um ihren Weg fortzusetzen.
»Verzeihung, werte Gräfin wollen doch nicht in die Stadt? Das ist nicht gestattet, hat die Fürstäbtissin …«
»Wenn du deine Stellung nicht riskieren willst, so hast du nichts gesehen.«
»Das Weib halte sein Maul. Und falls du gefragt wirst: Du bist meine Nichte und hilfst mir bei Besorgungen. Ist das klar?«
Helena konnte dem Leibarzt ohnehin nichts mehr entgegnen, denn vor dem imposanten Rathaus boten Händler ihre Waren auf dem Marktplatz feil und schrien sich dabei die Seele aus dem Leib. Das efeuberankte Rathaus stand wie vom Himmel gefallen am Ende des Marktes, wo sich die Wege teilten. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich hinter dem Äskulap durch das geschäftige Treiben in der engen Gasse zu quälen. Den Marktplatz umsäumten voll besetzte Gasthäuser und Ausspanne, dazwischen standen die schmucken Fachwerkhäuser der Großkaufleute. Doch die Blattern ließen sich vom Wohlstand nicht beeindrucken, und der Tod war allgegenwärtig.
Vor Helenas Augen wurden aus dem roten Gildehaus der Gerber zwei Tote in Leichentüchern getragen, und im Weitergehen entdeckte sie vor den Türen immer wieder frische Strohkreuze. Doch es schien ihr, die Leute hatten keine Angst vor der Krankheit, sie lebten im Hier und Jetzt und hatten keine Zeit, sich um etwas zu sorgen, von dem sie noch nicht am eigenen Leib betroffen waren.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie mich auf dem Gang zum Chirurgen begleiten«, bedankte sie sich beim
Leibarzt, als sie ihn in dem schmalen Durchgang einholte, der unter dem Gildehaus der Schuhmacher in einen Innenhof führte; dort hatten die Meister der Zunft in kaum mannsbreiten Häuschen ihre Läden ausgeklappt, um Waren feilzubieten.
»Nichts läge mir ferner. Ich befinde mich lediglich auf dem Weg zum Gerber«, bemerkte er leichthin.
»Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«, beschwerte sie sich. »Ich dachte, Sie gingen mit mir zum Chirurgen? «
»Das kommt davon, wenn ein Weib denkt. Ich benötige vom Gerber das Leder für eine neue Tasche. Würde ich sonst angesichts dieses
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