Mädchen und der Leibarzt
vielleicht könnten Sie den versiegelten Brief dort von der Kommode nehmen und diesen für mich im Stift abgeben? Er ist an die Seniorin Gräfin Maria gerichtet. Ich werde nicht zurückkehren. Ich werde mein Kind behalten.«
Die Nachgeburt war ordentlich vonstattengegangen, und der Junge lag friedlich in der Wiege, als sie das Haus verließen. Das Dienstmädchen nahm den Weg zum Stift, während Helena in Gedanken versunken zusammen mit dem Chirurgen das Haus verließ.
Er musterte sie neugierig. »Wie haben Sie das nur gemacht? Und vor allem, erklären Sie mir bitte, woher Sie von dem Vorfall wussten? Sie sind nicht aus der Gegend, nicht wahr? Andernfalls müsste ich Sie kennen.«
Helena blieb ihm die Antwort schuldig. Aus der Gruppe schaulustiger Frauen, die dem Geburtsspektakel beigewohnt hatten, löste sich Aurelia, kam noch zwei Schritte auf sie zu, blieb dann aber stehen, die Arme vor den Bauch gelegt, in den Händen ein Strauß getrockneter Baldrian.
»Warum antworten Sie mir nicht? Woher wussten Sie von der Geburt?«
Helena ging mit gesenktem Blick an Aurelia vorbei. »Ich war gerade auf dem Weg zu Ihnen. Die Nachbarin sagte mir, wo ich Sie finde. Als ich von der schweren Geburt hörte, habe ich nicht lange gezögert. Ich bin … eine Nichte von Monsieur Dottore Tobler. Der Leibarzt schickt mich.«
»Der Leibarzt?«
»Ja. Sie sind doch der Chirurg, oder?« Helena drehte sich unauffällig nach Aurelia um; sie war verschwunden.
»Sie meinen der elende Chirurg. Ja, der bin ich. Danke übrigens. Ohne Sie hätte ich noch einen Toten mehr auf dem Kerbholz gehabt. Womöglich sogar zwei mit dem Kind. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet. Sie haben meinen ohnehin schon kläglichen Ruf erhalten. Was kann ich für Sie tun?«
»Könnten wir das in Ihrem Haus besprechen?«
»Das scheint ja etwas sehr Geheimnisvolles zu sein. Will mir der Leibarzt am Ende gar seine Patienten vermachen? Ich habe gehört, er hat das Stiftsleben satt und will sich um eine neue Stellung bemühen.«
»Wohl eher, weil das Stift vermutlich aufgelöst wird.«
»Nun habe ich schon gedacht, mir stünde ein Leben in Saus und Braus bevor. Hier in unserem schönen Städtchen Quedlinburg bin ich zwar der einzige Chirurg, die Aderlässe muss ich mir aber trotzdem redlich mit den Badern teilen, damit es kein böses Blut gibt.« Lukas lächelte schief, angesichts seines Wortspiels. »Langweile ich Sie?«
»Wie bitte? Nein, nein, Entschuldigung. Ich war nur gerade in Gedanken woanders.«
Schweigsam gingen sie den Münzenberg hinauf und betraten unter den neugierigen Blicken von Nachbarin und Ortshebamme das kleine Haus des Chirurgen. Lukas rief den beiden Frauen im Hineingehen zu: »Alles gutgegangen!«
Die Stube war verhältnismäßig hell und auf den ersten Blick sehr sauber. Lavendelduft strömte ihr aus einer Schale mit getrockneten Blüten entgegen, und hinter dem einfachen Holztisch breitete sich an der Wand ein prallgefülltes Bücherregal aus. Staunend fragte sich Helena, ob er sein Wissen nur aus Büchern bezog, ohne es mit sicheren Händen in die Tat umsetzen zu können, oder ob ihm tatsächlich daran gelegen war, neue Methoden auszuprobieren. Sie wagte nicht weiter über diese Frage nachzudenken.
Für die Behandlung der Patienten gab es eine Holzliege mit einem sauberen Leintuch und daneben einen Behandlungsstuhl mit nachträglich angebrachter Kopfstütze. In der Ecke über der Waschschüssel hingen sämtliche Werkzeuge, die sie auch schon beim Äskulap gesehen hatte. Allerdings hatte Lukas einfache Wandnägel zur Aufhängung bevorzugt.
»Setzen wir uns doch. Ich hoffe, es ist Ihnen warm genug. Wollen Sie mir sodann Ihr geheimes Anliegen vortragen? Ich bin schon sehr gespannt.«
Helena nahm vor dem Regal Platz. Sofort stieg ihr der süßlich-herbe Duft des Buchleders in die Nase. Sie liebte diesen Geruch von Wissen und Arbeit, der sich in diesem Raum vermischte. Sollte sie Lukas die Wahrheit sagen, wofür sie das Blatterngift benötigte? Oder sollte sie einfach von einer geplanten Inokulation der Stiftsdamen berichten? Würde er ihr das glauben? Mit den roten Haaren und der rötlich schimmernden Nase wirkte er ein wenig wie ein freches Kind, und seine großen Augen schauten sie mit einer Mischung aus Gutgläubigkeit und Neugierde an. Man könnte fast denken, Lukas hätte diesen Monsieur Laroche zur Erfindung des Kaspers inspiriert.
»Nun, Helena? Sie können ganz frei reden. Es hört uns niemand zu. Ich halte auch
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