Mädchen und der Leibarzt
Anscheinend waren ihm die Ehre meines Besuchs und die Gnade eines Leibarztes schon Entlohnung genug. Aber es war ja schon immer meine Rede, die Kleinen und Schwachen zu unterstützen, nicht wahr, Helena? Deshalb will ich dir das Geld für das Blatterngift geben. Ich hoffe, du weißt meine Güte und Großzügigkeit zu schätzen.« Mit einem gönnerhaften Lächeln legte der Äskulap ein paar Münzen auf den Tisch, und Helena biss vor Wut die Zähne zusammen. »Sodann können wir also endlich gehen. Ich erwarte Sie morgen früh im Stift.« Mit einem letzten abschätzigen Blick maß er den Chirurgen. »Und ziehen Sie sich bitte etwas Ordentliches an, damit unsere Bediensteten Sie nicht für einen Bettler halten.«
»Das wird kaum notwendig sein. Der Versuch, von dem mir Ihre Nichte erzählte, wird nämlich in meinen Räumlichkeiten stattfinden.«
»Bei Ihnen? Wie kommen Sie darauf?«
»Weil der Patient sofort von allen Menschen abgeschieden werden muss, denen er das Gift mitteilen könnte. Das sollten Sie eigentlich wissen! Sie als Leibarzt!«
»Natürlich bin ich mir dessen bewusst. Ihnen scheint dagegen nicht klar zu sein, dass Sie bis morgen früh eine Kutsche zu organisieren haben, um einen Leibarzt standesgemäß aus dem Stift abholen zu lassen. Schließlich werde ich
morgen der wichtigsten Stunde im Leben meiner Nichte beiwohnen, und da werde ich mir wohl kaum die Füße dreckig machen.«
Auf dem Rückweg ins Stift schwang der Leibarzt seinen Stock in gemütlicher Spaziermanier neben sich her und es fehlte nur noch, dass er ein Liedchen gepfiffen hätte. In Helena brodelte es.
Auf den letzten Schritten den Stiftsberg hinauf bemerkte sie das erstmals heruntergelassene Falltor; offenkundig hatte die Fürstäbtissin nun doch die Blatterngefahr erkannt. Vor den schwarzen Gitterstäben blieben sie stehen. »Wo ist denn der Wächter?«
»Es wäre sehr freundlich von dir«, bemerkte der Leibarzt, »wenn du dein Maul schließen und das Tor öffnen würdest. «
»Ich kann Sie nicht hineinlassen. Das ist ein Falltor.«
»Das ist der Grund, warum ein Weib zu Hause bleiben sollte und auf der Straße nichts zu suchen hat! Nachdem es ziellos durch die Gassen geirrt ist, sind die Sinne so verwirrt, dass es nicht mehr weiß, wie man sich Einlass verschafft. Dazu muss man lediglich den Torwächter rufen und ihn befehligen.«
»Aber hier ist doch keiner!«
»Keine Sorge. Ich verstehe schon, dass du dazu nicht in der Lage bist.« Der Leibarzt hob seinen Stock und klopfte dreimal gegen die dumpf klingenden Eisenstäbe. Gleich darauf waren eilige Schritte zu hören.
»Das nächste Mal ein wenig schneller, Lorenz. Sonst
bringe ich dir gerne ein wenig Rizinusöl, damit du weißt, was rennen heißt.«
Die Auffahrt hinauf ließ sich Helena einige Schritte hinter den Äskulap zurückfallen. Hätte sie Pfeil und Bogen zur Hand gehabt, hätte sie ihn hinterrücks erschossen, dachte sie wütend. So aber trennten sich ihre Wege grußlos an der Eingangstüre, wo er ohne sich umzudrehen die Treppe hinab in seine Höhle stieg und sie in den ersten Stock hinaufging.
Vor dem Sternenzimmer atmete Helena tief durch, bevor sie hineinging. Gregor saß wie immer am Schreibtisch und sah ihr mit sorgenvoller Miene entgegen.
»Ist alles gutgegangen? Wo ist das Blatterngift?«
»Alles in Ordnung. Aber ich muss mich erst einmal setzen. Der Äskulap hat sich widerlich benommen. Morgen früh gehen wir noch einmal zum Chirurgen, und dort findet dann der Versuch statt.« Helena wunderte sich selbst über den sicheren Klang ihrer Stimme.
»Gratuliere!« Gregor sprang auf, ließ sich neben sie aufs Bett fallen und umarmte sie stürmisch. »Im Übrigen hörte sich das gerade so an, als ginge es um nichts Aufregenderes als Kühe zu melken. Hast du keine Angst mehr vor dem Versuch?«
Helena barg sich in seinen Arm und genoss seine sanften Berührungen. »Ich kann an nichts anderes mehr denken. «
»Stell dir nur vor, wie wir dem Äskulap eins auswischen, wenn uns der Versuch gelingt. Als Strafe für alle seine Gemeinheiten. «
»Wenn es nur seine Gemeinheiten wären …« Helena verstummte beim Gedanken an den Tod des Stiftskanzlers.
»Denkst du an Sebastian? Die Umstände sind wirklich sehr merkwürdig. Aber glaubst du in der Tat, der Äskulap will dich für Sebastians Tod verantwortlich machen?«
»Genau das hat er versucht, bis du ihm gesagt hast, dass ich längst vor Mitternacht wieder zurück war. Mit dir als Zeugen hatte er nicht
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