Mädchen und der Leibarzt
nirgendwo scheintote Leiber versteckt.«
Ahnte er, was sie über ihn dachte? Sie war sich ihres anfänglichen Urteils über den Chirurgen beim Anblick seines vorbildlichen Behandlungszimmers schon nicht mehr so sicher.
»Die Sache ist … Es geht um Folgendes: Wir benötigen Blattern für eine Inokulation.«
»Und weiter?«, fragte Lukas stirnrunzelnd.
»Nichts weiter.« Helena schüttelte verwundert den Kopf. »Der Leibarzt meinte, die bekäme ich bei Ihnen.«
»Sicherlich. Aber ich weiß nicht, wie der werte Dottore sich das vorstellt. Es wäre doch ziemlich naiv zu glauben, ich würde das Blatterngift hier lagern. Es muss bei einem Erkrankten aus einer frischen Blatter mit einem Federkiel herausgesaugt werden.« Lukas hielt inne. »Er hat den Stiftsdamen hoffentlich zur Kenntnis gebracht, dass ich nicht für einen milden Verlauf der Inokulation garantieren
kann? Möglicherweise ruiniert es die Haut, und schlimmstenfalls kann es tödlich enden, falls sich die Blattern in eine schwere Form wandeln. Aber wenn die Damen es so wünschen … Wie viele Stiftsdamen müssen denn inokuliert werden?«
Bevor Helena antworten konnte, fügte er hinzu: »Außerdem müssen Sie mir das Geld dafür im Voraus geben. Die derzeit Erkrankten lassen sich ihre Krankheit schließlich teuer bezahlen. Auch wenn die Patienten selbst das Geld vielleicht nicht mehr ausgeben können, so ist es doch wenigstens fürs Erbe gut. Wie viel Blatterngift wird nun also benötigt?«
»Eigentlich, um genau zu sein, nur für eine Person.«
»Verzeihung? Für nur eine Person?«
»Ja. Eine einzige Inokulation.«
Lukas schüttelte verständnislos den Kopf. »Würden Sie mir bitte genauer erklären, was der Leibarzt damit bezwecken will? Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.«
Helena sah ihn an. Sie versuchte, in den Augen dieses bunten Vogels ein wenig Verständnis zu entdecken, doch andererseits hatte auch der Äskulap anfangs mit Ablehnung reagiert. Ihr Blick wanderte zum Bücherregal, als würde sie dort eine Lösung finden. Wie sollte sie sich ihm mitteilen? Wie ihm sagen, wer genau hinter der Mission stand?
» Ich benötige das Blatterngift, nicht der Leibarzt.«
»Und wozu?«
»Für einen Test, um eine Theorie zu beweisen. Es geht um die Melkerknoten«, fügte sie hinzu, als sie den verständnislosen Blick des Chirurgen sah. »Ich vermute, dass sie vor den Blattern schützen.«
»Das glaube ich auch«, erwiderte Lukas, und Helena
stand vor Überraschung der Mund offen. »Meine Beobachtungen lassen diesen Schluss ebenfalls zu«, vertraute ihr der Chirurg an. »Es gibt nur einen Haken an der Sache: Die Methode ist viel zu einfach, als dass ein Medicus daran interessiert wäre! Wieso sollte der Leibarzt jemandem Glauben schenken, dessen Kerbholz länger ist als sein Spazierstock? Wieso sollte er beispielsweise mir vertrauen? Einem Chirurgen – einem elenden Chirurgen!«
Noch bevor Helena etwas erwidern konnte, dröhnte plötzlich wie auf Geheiß die Stimme des Äskulap von der Tür her zu ihnen: »Da bin ich aber froh, dass der elende Herr Chirurg endlich ein Einsehen mit sich selber hat.« Der Leibarzt reckte den Hals und kam neugierig näher. »Ich wollte eigentlich nur feststellen, warum das hier so lange dauert. Ihre, wenn auch späte, Selbsterkenntnis erfreut mich jedoch zutiefst. Man lernt nie aus – das gilt für alle niederen Berufe. Ich möchte Sie jetzt auch gar nicht länger davon abhalten, etwas für Ihre Bildung zu tun. Komm, Helena. Und vergiss das Blatterngift nicht.«
Lukas verschränkte die Arme vor der Brust. »Guten Tag auch, werter Monsieur Dottore Tobler. Die Glocke befindet sich rechts neben der Türe. Blatterngift habe ich übrigens nicht vorrätig.«
»Oh, das ist natürlich jammerschade und verzögert die ganze Sache ungemein. Helena hat Ihnen aber hoffentlich genug Geld gegeben, damit Sie nicht erst noch im Wirtshaus darum spielen müssen?«
Helena und Lukas wechselten einen unschlüssigen Blick. Es war ihr Fehler gewesen. Ihretwegen hatten Sophie und das Kind zwar überlebt, aber sie hatte wieder einmal vergessen, ihren Lohn einzufordern.
»Kann ich dem entnehmen, dass hier ein kleines Problem vorzuliegen scheint?« Mit gespieltem Erstaunen hob der Äskulap eine Augenbraue. »Dabei hätte der Herr Chirurg nur einmal die Walnusshände des Gerbers richtig untersuchen müssen, dann könnte er jetzt nämlich ein sattes Stück Leder sein Eigen nennen. Mir hat es der Gerber jedenfalls umsonst überlassen.
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