Mädchen und der Leibarzt
würden es niemals aufgeben. Außerdem müssen die adeligen Damen versorgt werden. Sie sind zu Hause in ihren Familien nicht erwünscht. Bis auf eine Dame sind alle wieder zurück.«
»Dann ist das hier gar kein Kloster, sondern eine Art Gasthaus mit einer Fürstäbtissin?«
Sebastian seufzte. »Sie haben den wunden Punkt getroffen. Vor rund neunhundert Jahren schenkte Kaiser Heinrich seiner Gemahlin Mathilde diese Burganlage, und sie gründete das Damenstift, eine Versorgungsstätte für jene Töchter des Hochadels, die von ihren Familien hierher abgeschoben werden, weil sich keine Heiratsmöglichkeit findet. Der Tradition nach sind wir also so etwas wie ein nobles Gasthaus mit klösterlichem Ambiente und der Religion als Fassade! Immerhin können wir stolz darauf sein, dass es nur wenige dieser Art in unserem Reich gibt. Wo stammen Sie eigentlich her?«
»Ich? Aus einem kleinen Dorf, ein paar Stunden von hier entfernt«, gab Helena vage zur Antwort und suchte schnell nach einer Gegenfrage: »In welchem Gebäude sind wir hier angelangt?«
»Das ist der Damenbau.«
Sie sah sich interessiert um. »Eine Unmenge von Zimmern. Wie viele Damen leben hier?«
»Momentan sind es acht. Neun, wenn alle zurückkommen. Jeder Dame gehören zwei Zimmer, ein Empfangszimmer und ein Schlafraum.«
»Das würde ich mir gerne einmal ansehen. Ich hatte selbst noch nie ein richtiges eigenes Zimmer.«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Ich würde Ihnen den Wunsch gerne erfüllen, aber das wird den Damen gar nicht recht sein. Man rasselt leicht mit ihnen zusammen, weil sie ihre Nasen immer sehr hoch tragen und nie nach unten sehen. Am besten geht man ihnen aus dem Weg. Selbst im Krieg muss so eine Dame für ihre hohe Pfründe nichts weiter tun, als ihr tägliches Gebet zu verrichten und einfach anwesend zu sein. Sie muss nicht einmal ein Gelübde ablegen. Bis sich also eine gute Partie findet, bekommt jede einzelne von ihnen ziemlich hohe Einkünfte aus den Stiftungen und macht sich hier das Leben einfach.«
Helena seufzte. Sich einmal nicht um den nächsten Tag sorgen zu müssen, einfach nur leben. Wie wäre das schön …
»Seufzen Sie nicht. Meistens kommt niemand zum Heiraten. Alsdann fristen die Damen hier so lange ihr trostloses Dasein, bis sie vielleicht irgendwann einmal zur Äbtissin gewählt werden – da ergeht es Ihnen doch viel besser. Die Männer werden sich bestimmt schon um Sie bemühen — Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.
Wohlan, am besten zeige ich Ihnen jetzt Ihr Zimmer, damit Sie sich ausruhen können, bevor Sie zu unserem Äskulap gerufen werden. Dort vorne, das Eckzimmer ist es.«
Helena verspürte eine wachsende Aufregung. Aber was war schon ein kleines Eckzimmer gegen das einer Adeligen mit der wunderbaren Aussicht, vielleicht niemals heiraten zu müssen?
Helena wollte ihre Freiheit. Eine Freiheit, die ihr die Ehe nicht bieten konnte. Nur entscheiden zu dürfen, ob es heute Bohnen oder Linsen geben würde, an welchem Brunnen sie Wasser holen wollte und welche Garnfarbe sie zum Stopfen nehmen sollte. Unvorstellbar! Friedemar zu heiraten entsprach auch nicht dem Gutdünken der Großmutter. Sie war von Anfang an gegen die Verbindung mit ihm gewesen, da es ihr wohl schon früher gelungen war, hinter seine Fassade zu sehen. Vielleicht wäre die Aufnahme ins Stift sogar ganz in ihrem Sinne gewesen, um sie vor der Heirat zu bewahren? Seine Worte drangen gewaltsam in ihr Gedächtnis. Du wirst mir nicht entkommen. Niemals .
Helena schauderte. Sie kannte ihn. Mit Sicherheit durchkämmte er gerade alle Gasthöfe der Umgebung und befragte jeden, der ihm über den Weg lief. Sie war der Schlüssel zu seinem Traum, seiner Obsession, und er würde so lange suchen, bis er ihn wiedergefunden hatte. Helena fühlte ihn plötzlich ganz nah, als ob er an ihrer Seele zerrte.
Als hätte Sebastian ihre Gedanken erraten, sagte er einfühlsam zu ihr: »Hier werden Sie sich wohlfühlen, es ist das schönste Zimmer im ganzen Stift.«
Helena schob sich an Sebastian vorbei und blieb ehrfurchtsvoll im Raum stehen. Das war kein Zimmer, das war eine Schatzkammer! Mannshohe Bücherregale, deren Stirnseiten
einen quer durch den Raum führenden Gang bildeten, reihten sich aneinander. Vor jeder Regalfront stand eine weiße Marmorbüste Spalier und wies dem Leser den Weg entlang reich verzierter Wandgemälde zu einem wuchtigen Schreibtisch im Erker, dessen Holz im Herbstlicht glänzte. Hier musste sie bleiben. Und zwar bis
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