Mädchen und der Leibarzt
ein Pferd bitten und meinen Weg, von dem Sie mich im Wald abgebracht haben, fortsetzen.«
Sebastian holte tief Luft. »Ganz, wie Madame wünschen! Leben Sie wohl und geben Sie auf sich acht. Falls Sie mich noch benötigen, Sie finden mich bei Gräfin von Hohenstein am Ende des Flures. Offensichtlich bedarf sie meiner Hilfe mehr als Ihre Person.«
KAPITEL 3
A urelia von Hohenstein saß verloren in ihrem großen Zimmer und starrte auf die blauen Vorhänge ihres Himmelbetts. Sie hielt ihr Kissen im Arm und versuchte den Blick auf die drei hölzernen Reisetruhen zu vermeiden, die seit ihrer Rückkehr aus Wien unausgepackt an der Wand gegenüber dem Bett standen.
Nur das wertvolle Pergament mit ihrem Stammbaum lag vor ihr ausgebreitet. Sie benötigte es für diese verfluchte Aufnahme ins Stift, nachdem sie nun das Residenzjahr hinter sich gebracht hatte. Die prächtigen Farben strahlten ihr verlockend entgegen. Mit der Klinge ihres Messers fuhr sie über die goldenen Buchstaben, die über einem mächtigen Eichenstamm mit beschrifteten Blättern prangten: Geschlecht derer von Hohenstein. Langsam strich sie mit der blanken Messerschneide bis in die Blätterkrone und verharrte dort bei dem Namen ihrer ersten Schwester. Katharina von Hohenstein . Die Klinge glitt unbarmherzig in das Pergament und durchtrennte das goldene Zeichen der Eheringe. Auch bei den übrigen sechs Geschwistern stach sie sorgfältig durch das Symbol, das bei ihrem Namen jedoch fehlte.
Als die Messerspitze bei dem Eichenblatt ihres Vaters anlangte, hielt sie inne. Er hatte ihr den Zutritt in das elterliche Haus verweigert und sie samt ihren Truhen vor der
Tür stehen lassen. Erst als sie ihm von der Gefahr durch französische Truppen berichtet hatte, wurde sie widerwillig eingelassen; ihr Vater hatte die Hoffnung gehegt, dass seine jüngste Tochter bald wieder ins Damenstift verschwinden würde, damit er sein Kind, oder besser gesagt, die unnötige finanzielle Belastung wieder los wäre.
Das Geräusch des Messers, der Schnitt durch das brüchige Pergament, durch den Namen des Vaters, wirkte beruhigend auf ihre Seele.
Nach vier Wochen, ohne eine einzige warmherzige Geste, war es so weit gewesen. Ihr Vater hatte kaum den Brief aus Quedlinburg geöffnet und verlesen, dass man nunmehr durch plündernde Truppen keine Gefahr mehr sehe, da Napoleon eine andere Richtung eingeschlagen habe, da wies er auch schon einen Diener an, die Habseligkeiten seiner Tochter wieder in die Truhen zu packen. Noch am Mittag musste sie ihm aus den Augen gehen und sich auf die Rückreise machen, sein schlechtes Gewissen beruhigt durch die Tatsache, die Tochter über eine Pfründe wohlversorgt zu wissen … Ihre Kutsche hatte noch vor der Fürstäbtissin und allen anderen Damen das Stift erreicht. Nie hatte sie ihrem Vater einen Anlass zum Kümmernis gegeben, ihr Schicksal war lediglich, die sechste Tochter in der Familie zu sein – eine Nachzüglerin, mit der niemand mehr gerechnet hatte und die somit zu viel auf dieser Welt war.
Ihr Vater war nicht bereit gewesen, auch noch für sie eine Mitgift zu stiften, schon gar nicht für eine politisch solch unbedeutende Partie wie den Grafen von Herberstein. Doch sie liebte Gregor seit über einem Jahr, und wenn er nicht wäre … Für ihn musste sie durchhalten und warten, bis er aus Kriegsdiensten entlassen wurde. Als er vor sechs
Monaten zuletzt zu Besuch im Stift gewesen war, hatten die anderen Damen den hübschen Mann mit den guten Manieren neidisch beobachtet, und sie sahen einen weiteren Anlass darin, der Österreicherin in ihren Reihen das Leben im Quedlinburger Stift zur Hölle zu machen. Die Damen hatten mit unverhohlener Schadenfreude zur Kenntnis genommen, dass Gregor in den Krieg ziehen musste und seitdem jegliche Nachricht von ihm fehlte.
Aurelia erhob sich, wanderte ziellos im Zimmer umher und schaute immer wieder hoffnungsvoll aus dem Fenster. Die nahen Harzberge begrenzten den Horizont. Ihr Blick schweifte hinüber zum Münzenberg, der sich wie ein Diener tief vor dem Stift verneigte und auf dessen Rücken sich nur einen Steinwurf entfernt die kleinen Häuser der weithin bekannten Bewohner tummelten. Um die Wandermusikanten, Scherenschleifer und Kesselflicker, die ihre Häuser aus allerlei auffindbaren Materialen kunterbunt auf den Grundmauern eines verfallenen Klosters erbaut hatten, rankten sich bis weit über die Dörfer hinaus die abenteuerlichsten Geschichten.
Aurelia wandte sich vom Fenster ab, ließ die
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