Mädchen und der Leibarzt
ein endlicher Besitz ergriffen werden soll. Hierzu habe ich meinen Geheimen Staats-, Kriegs- und dirigierenden Minister, wie auch General-Controlleur der Finanzen, Graf von der Schulenburg-Kehnert ausersehen und bevollmächtigt, den Eid der Treue und der Untertänigkeit in Quedlinburg abzunehmen …«
Lukas lehnte sich vom Fenster zurück. »Das hätte mich auch gewundert, wenn es dem König einen persönlichen Besuch wert gewesen wäre. Die Stifte Herford und Essen geben sicherlich viel mehr her, mal ganz abgesehen von den anderen Gebieten, die er als Besitztümer ergattert hat.«
»Oh, lasst uns trotzdem hinuntergehen und dem Spektakel
beiwohnen!« Ernestine zog Borginino am Ärmel, doch der Diener wies sie sanft zurück.
»Ich denke, es ist besser, wenn du mit Lukas gehst. Ich werde mit Helena hier oben bleiben.«
Sie sah die Angst in den Augen des Dieners, die sich unmittelbar auf sie selbst übertrug. Plötzlich wurde auch sie sich der Gefahr wieder bewusst. Sie durfte weder der Fürstäbtissin noch dem Äskulap in die Arme laufen. Andererseits … Das Stift stand kurz vor der Auflösung. Was konnte ihr da noch passieren? Aber vielleicht wäre es doch klüger, sich zu verstecken und so lange abzuwarten, bis alles vorbei war.
»Da fällt mir noch etwas viel Besseres ein!«, rief Ernestine. »Helena, denk doch nur daran, du hast ein Mittel gegen die Blattern gefunden! Das muss im ganzen Land bekanntgemacht machen! Und zuallererst treten wir mit dieser Nachricht vor die Versammelten hier. Ich bin dein lebender Beweis, und der Leibarzt muss es einfach bestätigen! Und hernach gehen wir zusammen auf Reisen. Mich und meine Tochter hält hier nichts mehr!«
Lukas fiel in die Begeisterung mit ein. »Und ich werde mein Häuschen verkaufen! Das habe ich mir schon so lange überlegt, und nun ist der richtige Zeitpunkt. Wir könnten uns eine Kutsche kaufen, zwei Pferde dazu, und so ziehen wir über die Dörfer und machen das Mittel gegen die Blattern unter den Leuten bekannt! Sodann wäre ich auch endlich nicht mehr der elende Chirurg …« Lukas hielt inne. »Nun, so ein paar kleine Operationen könnte ich ja unterwegs immer noch durchführen, um ein bisschen Geld zu verdienen, oder?«
Helena hatte die ganze Zeit über zugehört und den Tatendrang
von Lukas und Ernestine auf sich wirken lassen. Dabei war ihr Entschluss gereift. »Für das, was ich vorhabe, brauchen wir mehr als nur eine Kutsche.«
Die drei sahen verständnislos drein.
»Der Stiftskanzler …« Helena schluckte. »Sebastians letzter Wunsch war, das Kirchensilber vor dem König zu retten. Ich habe es ihm versprochen.«
Einen Augenblick lang sagte niemand etwas, dann deutete Borginino in den Stiftshof hinunter. »Dafür ist es wohl zu spät.« Es war kaum auszumachen, ob Erleichterung oder Enttäuschung in seiner Stimme lag.
»Aber ich will ihm seinen letzten Wunsch erfüllen! Ich mache mich jetzt auf in die Kirche.«
»Helena!« Der Diener packte sie flehend am Ärmel. »Tu es nicht! Man wird dich sehen!«
»Keine Sorge! Es gibt schließlich nicht nur den Hauptzugang, sondern auch noch den Verbindungsgang vom Fürstinnenbau aus. Es wird mich niemand bemerken.«
»Aber wie willst du denn die Kirchenschätze wegbringen? Wir haben nicht mal eine einzige Kutsche!« Vermutlich ahnte Borginino bereits, dass auch dieser Versuch des Widerspruchs zwecklos sein würde, denn er gab widerstrebend den Weg frei.
Lukas zog die Augenbrauen in die Höhe. »Helena, du weißt hoffentlich selbst, dass du das nicht alleine schaffst!«
»Außerdem bitte ich nicht zu vergessen, dass Helena eigentlich immer noch im Verlies sitzt«, meldete sich Borginino noch einmal kläglich zu Wort. »Ganz abgesehen davon, dass uns das Kirchensilber nicht gehört und wir es nicht einfach fortbringen dürfen.«
»Lass uns gehen, Helena«, entschied Lukas.
Ernestine stemmte die Hände in die Hüften. »Und mich fragt niemand? Ich bin zwar schon alt und kann nicht mehr viel tragen, aber ich helfe euch natürlich!«
»Ich komme auch mit!« Die anderen sahen Borginino fragend an. »Nun, ich darf Helena doch schließlich nicht alleine lassen.«
Die Glocken läuteten noch immer, als Helena die Tür zur Empore aufzog. Als sie einen Blick hinunter in das Kirchenschiff warf, blieb sie wie versteinert stehen. Die Menschen, die eben noch im Hof gestanden hatten, strömten zum Portal herein und drängten sich in die Bänke. Fassungslos beobachtete sie die Frauen in den farbenprächtigen
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