Mädchen und der Leibarzt
Kleidern und die Männer, die sogar vor Aufregung vergaßen, Hut und Waffe abzulegen und sich schnell einen Platz suchten. Die vordersten Reihen waren besonders begehrt, und es herrschte eine Geräuschkulisse wie auf einem Festbankett.
Der Huldigungskommissär nahm unter einem Thronhimmel Platz, den man in der Mitte des Chors auf einem dreistufigen Podest errichtet hatte. Seine kleine Gestalt verlor sich auf dem übergroßen, mit rotem Damast überzogenen Lehnstuhl. Über ihm schwebte als bizarre Krönung Jesus am Kreuz.
Graf von der Schulenburg-Kehnert erwartete konziliant und mit liebenswürdiger Gelassenheit den Einzug der übrigen Huldigungsgäste. Helena war so gefangen von allem, dass sie erst das Erscheinen des Äskulap aus ihrer andächtigen Bewunderung riss.
Mit dem neuen Medizinkoffer in der Hand wartete er gemächlich ab, bis sich die Fürstäbtissin, gefolgt von den Damen und einer Handvoll Stiftsbeamten, einen Weg durch die Menge gebahnt hatte und alle sich an der linken Seite des Throns aufgereiht hatten. Einzig die Seniorin fehlte. Der Leibarzt ging gemessenen Schrittes an der Fürstäbtissin vorüber, um sich auf die andere Seite des Throns zu stellen.
»Was macht der denn da?«, zischte Lukas. »Was hat der Äskulap inmitten der Dienerschaft des Huldigungskommissärs zu suchen?«
»Er scheint die Seiten gewechselt zu haben.« Nicht weiter beeindruckt von dieser erwartbaren Tatsache suchte Helena nach einem geeigneten Versteck, von dem aus sie alles überblicken konnten. Es blieb ihnen jedoch nichts anderes übrig, als sich an Ort und Stelle zu ducken und nur zuweilen über den Rand der Empore zu äugen.
Als das Glockenläuten endlich verklang, wurde es still in der Kirche. Nur leises Hüsteln und das vereinzelte Rascheln eines Kleides waren noch zu hören. Helena wagte kaum zu atmen, Lukas hielt die Augen geschlossen und Ernestine hatte die Hände gefaltet. Selbst aus Borgininos Gesicht schien das Lächeln weitgehend verschwunden.
Mitten in diese Lautlosigkeit drang die Stimme des Huldigungskommissärs: »Nachdem wir gedachte Reichslande und Herrschaften nun in wirklichen Besitz genommen und unserem königlichen Hause für jetzt und ewige Zeiten einverleibt haben, fordern wir genannte Einwohner und Untertanen hiermit gnädigst auf, uns und unseren Nachkommen, als ihren nunmehrigen rechtmäßigen königlichen Landesherrn den Eid der Treue und der Untertänigkeit zu leisten
und sich durch Erweisung als getreue Untertanen unseres landesväterlichen Schutzes würdig zu machen.« Er schaute in die Gesichter der Huldigungsgäste, um seine Worte wohlwollend bestätigt zu wissen. »Sodann sind die Stiftsbeamten hiermit ihres Treueeids gegen die seitherige Herrschaft entbunden. Den Beamten, die bisher eine gewisse Anhänglichkeit gezeigt haben, wird ein kleines Angedenken in Aussicht gestellt.«
»Ihr werdet auch noch ein Andenken von uns bekommen, darauf könnt ihr euch verlassen«, knurrte Borginino.
»Zum Glück muss das mein Mann nicht mehr erleben«, flüsterte Ernestine. »Vierzig Jahre lang stand er in treuen Diensten!«
»Psst.« Helena legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter und lugte weiter über den Rand der Empore. Ihr Blick galt einzig dem Äskulap inmitten der fremden Dienerschaft.
Graf von der Schulenburg-Kehnert räusperte sich. »Das königliche Haus erteilt hiermit die Versicherung, dass wir uns stets angelegen sein lassen werden, das Wohl und die Glückseligkeit unserer neuen Untertanen nach allem Vermögen landesväterlich zu befördern und zu vermehren. Im Falle ihres Wohlverhaltens kann sich das Volk unserer Huld, Gnade und besonderer Rücksichtnahme gewiss sein.«
»Welch Ehre – vielen Dank auch«, sagte Lukas mit zusammengepressten Zähnen. »Sodann werden wir lieber selbst für uns sorgen.«
»Es sollen daher sämtliche Untertanen, Zugehörige und Schirmsverwandte des Damenstifts von Subdelegations wegen von dieser Besitzergreifung benachrichtigt und ernstlich
gemahnt werden, sich den neuen Verhältnissen pflichtschuldigst zu fügen, überhaupt sich ruhig zu verhalten und in aller Rücksicht so zu betragen, dass sie diejenigen Übel und Strafen vermeiden mögen, welche die unausweichlichen Folgen eines ungehorsamen und ordnungswidrigen Benehmens sein würden. Außerdem sind bei schwerster Verantwortung alle Veräußerungen zum Nachteile der Entschädigungsmasse zu vermeiden, auch dürfen keine Frucht-, Holz- oder Viehverkäufe mehr stattfinden.«
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