Mädchen und der Leibarzt
warfen sich ungläubige Blicke zu.
»Das Besitzergreifungspatent wird zur Kenntnisnahme aller an die Tore des Stifts und der Stadt angeschlagen. Des Weiteren sind alle Untertanen dazu angehalten, den Wortlaut desselben auch mündlich zu verbreiten.«
»Es wird noch eine ganz andere Nachricht die Runde machen – und zwar wesentlich schneller«, sagte Borginino.
Helena fröstelte, Gänsehaut breitete sich über ihren Rücken aus. Unentwegt hatte sie darüber nachgedacht, wie man die Kirchenschätze doch noch retten könnte. Ihre Gedanken waren jedoch nur kleine, schwer fassbare Funken geblieben. Und aus dem jämmerlichen Hoffnungsschimmer wurde schließlich die Gewissheit, dass es zu spät war.
Wie aus weiter Ferne hörte sie, wie der Huldigungskommissär das Wort an einen seiner Begleiter übergab.
»Die neuen Untertanen werden alsdann aufgefordert, ihrem ernannten Huldigungskommissär, dem Herrn Geheimen Staats-, Kriegs- und dirigierenden Minister Graf von der Schulenburg-Kehnert den Eid der Treue und der Untertänigkeit abzulegen. Dies soll geschehen im Namen ihres nunmehr rechtmäßigen Landes- und Lehnsherrn und seinen Nachkommen.«
Lukas stöhnte. »Wenn der weiter seine Parolen schwingt, fallen mir noch die Ohren ab.«
»Dann halte sie dir bitte zu und denk stattdessen darüber nach, wie wir das Silber vor den Augen des Kommissärs entwenden können!«, bat Helena flehentlich.
»Die Huldigungsformel wird nun verlesen. Dem durchlauchtigsten und gnädigen preußischen König Friedrich Wilhelm …« Der Abgesandte ließ die Worte voller Ehrfurcht verklingen, bevor er weitersprach: »Ihr hier versammelten Deputierten sollt einen Eid zu Gott dem Allmächtigen schwören und dadurch Seiner Königlichen Majestät und alle Nachfolger an der Regierung als eure wahren, eigenen und rechten Landesherrn halten und erkennen, fürderhin Höchstihren Verordnungen, Geboten und Verboten schuldig Folge leisten, untertänig, treu, gehorsam und gewärtig sein, Höchstdero Nutzen und Bestes befördern, Schaden abwenden und alles dasjenige leisten und unverweigerlich entrichten wollen, was ihr als getreue und gehorsame Untertanen Seiner Majestät und dem königlichen Hause zu leisten und zu entrichten schuldig und pflichtig seid.«
Stille, die scheinbar ewig andauerte, und Helena wagte einen Blick über die Brüstung. Just in diesem Moment sah der Äskulap zu ihr empor. Als ihre Blicke sich trafen, durchfuhr es sie eiskalt.
Der Leibarzt fasste sich, wandte sich dem Huldigungskommissär zu, um als Erster seinen Eid abzulegen.
»Ich gelobe und schwöre zu Gott dem Allmächtigen einen bürgerlichen Eid, dass ich die mir vorgehaltenen Punkte, welche ich wohl verstanden habe, getreulich und gehorsam halten und befolgen werde. So wahr mir Gott helfe und seine Heiligen.«
Kaum hatte er den Eid abgelegt, fuhr er eilig fort: »Bevor meine Rede im allgemeinen Tumult der Huldigung untergeht, möchte ich sogleich noch ein paar Worte an die Versammelten richten. Welche Empfindungen von Herzlichkeit, Ehrfurcht und Dank müssen die gegenwärtigen Untertanen in diesem Augenblicke durchdringen. Denn nun ist es vollbracht, das wichtige Werk. Geschlossen ist der heilige, unverbrüchliche Bund zwischen dem neuen Landesherrn und den Untertanen, zwischen Vater und Söhnen. Und wie könnte sich ein König huldvoller gegen seine Untertanen und ein Vater liebenswerter gegen seine Söhne ausdrücken, als es der verehrte Graf von der Schulenburg-Kehnert in seiner so erhabenen wie vortrefflichen Anrede als Vertreter unseres allseits gnädigen Königs auszudrücken geruhte. In diesem Zusammenhange möchte ich auch nochmals meinen untertänigsten Dank aussprechen, nunmehr als Leibarzt in den Diensten Seiner Königlichen Majestät stehen zu dürfen …«
»Ach, und jetzt fasst er sich nicht mehr kurz und dreht seine Sanduhr um?«, schimpfte Ernestine.
»Er ist bestimmt bald fertig mit seinem Sermon«, beruhigte sie Lukas. »Bestimmt kommt nur noch die Danksagung. «
»Außerdem möchte ich meinen Dank zum Abschied an die ehemalige Fürstäbtissin und sämtliche Damen des Stifts richten«, ertönte der Äskulap von unten. »Ohne die vehementen Streitigkeiten mit ihnen wäre das Mittel gegen die Blattern niemals von mir entdeckt worden.«
Helenas innerliche Beklemmung verflog augenblicklich, stattdessen breitete sich unbändige Wut in ihr aus. Wut auf diese hinterhältige und miese Gestalt, die soeben in königliche
Dienste befördert worden war und
Weitere Kostenlose Bücher