Mädchen und der Leibarzt
habe mich vor zwei Wochen ebenfalls dem Blatternversuch unterzogen. Der Äskulap wollte dafür in Zukunft bei Behandlungen die Sanduhr stecken lassen, und er hat mir den Erlass all meiner Schulden versprochen, wenn ich es tue.«
»Was hast du? Ich meine, was hat er gemacht? Ist das denn die Möglichkeit!« Helena war nahe dran, die Beherrschung zu verlieren. Auch Lukas hatte Mühe, an sich zu halten. Da schwante Helena etwas, und sie funkelte den Chirurgen an. »Lukas, woher hatte der Äskulap die Blattern für Ernestine? Antworte mir!«
Entsetzt schüttelte dieser den Kopf. »Helena! Was denkst du von mir?«
»Nein, nein«, kam ihm Ernestine zu Hilfe, »Lukas war es nicht. Der Leibarzt sagte, er hätte einen Händler auf dem Markt beauftragt, die Blattern zu besorgen, und ihm dafür gutes Geld gegeben. Was blieb mir für eine Wahl, Helena? Ich dachte, ich helfe dir damit! Ich musste auch für die ordnungsgemäße Übertragung der Melkerknoten auf den Grafen von Herberstein Sorge tragen. Und das mitten in der Nacht auf der Kuhweide. Und als ich nunmehr gehört habe,
wie es dem armen Herrn Grafen ergeht, hat mich die Angst ergriffen …«
»Ernestine, bleib ganz ruhig.« Helena versuchte sich selbst zu beruhigen, aber sie brachte keinen weiteren Ton mehr heraus.
Lukas sprang für sie ein. »Gregor hat keine Blattern, er hat die Syphilis. Helena ist der Versuch geglückt, allerdings will das der Äskulap schlichtweg nicht wahrhaben. Aber die Wahrheit ist ein selten Kraut und noch seltener, wer es gut verdaut.«
»Keine Blattern?« Ernestine atmete tief durch. »Gott sei Dank! Dann ist also alles gutgegangen? Sodann bin ich gar nicht zum Tode verurteilt? Und der Herr Graf auch nicht?«
»Nein«, bekräftigte Helena.
Ernestine holte ein gerolltes Schriftstück unter ihrem Umhang hervor. »Ich wollte dir noch etwas zeigen. Ich weiß nicht, es ist ein Pergament mit einem Siegel drauf. Das ist doch immer etwas Wichtiges, oder? Darf man es auch öffnen, wenn es an einen Toten gerichtet ist?«
»Natürlich darfst du die Post für deinen Mann öffnen, Gott hab ihn selig.«
»Das ist nicht für meinen Mann; es lag vor der Türe des seligen Herrn Stiftskanzlers. Ich bin vorhin an seinem Haus vorbeigekommen, und da habe ich es einfach an mich genommen. Habe ich etwas falsch gemacht? Helena, du schaust so komisch drein.«
Zögernd nahm Helena das Pergament an sich. Vorsichtig, als könnte dadurch der Inhalt des Briefes zerstört werden, brach sie das unbekannte Siegel. Lukas hielt ihr die Kerze hin, und Helena begann zu lesen:
Seiner kaiserlichen Majestät Hofkriegsrats-Präsident Erzherzog Karl von Österreich fügt hiermit dem Stiftskanzler Sebastian von Moltzer zu Quedlinburg in Sachen des desertierten Grafen Gregor von Herberstein folgenden Generalpardon zu Wissen ...
Helena verstummte. Vor Rührung versagte ihr die Stimme: Gregor hatte nichts mehr zu befürchten! Lukas legte den Arm um sie, und sie las weiter:
Seine kaiserliche Majestät Franz II. Joseph Karl geruht alle und jede Deserteurs, so aus den österreichischen Kriegsdiensten vor kurz oder lang ausgetreten, gnädigst zu pardonnieren, sofern sich die Deserteurs zwischen hier und dem ersten Tag des Monats Mai des nächstanstehenden Jahres 1803 bei ihren Regimentern hinwieder einfinden, alsdann dieselbigen ihrer begangenen Austretung wegen – es mag die Desertion aus Ursachen geschehen sein, wie sie immer wollen – keineswegs mehr zu einiger Straf gezogen werden, sondern solches Verbrechen in völlige Vergessenheit gesetzt und sie diesfalls pardonniert sein sollen.
Nach Verfließung gedachten Termins aber, falls sich dieselbigen inzwischen nicht einstellen, wird gegen selbige als pflichtvergessene Deserteurs ohne Hoffnung einiger Gnad aufs Schärfste verfahren. Derohalben soll der von höchst erwähnter kaiserlichen Majestät mildest erteilte Generalpardon hiermit öffentlich bekanntgemacht werden, damit sich die Deserteurs nunmehro binnen obgesetztem Termin sicher und ohne Bedenken dahier bei ihren Regimentern gebührend einstellen und diesen Generalpardon sich zu Nutzen machen können.
Urkundlich mit dem Insiegel Sr. Kaiserlichen Majestät bedruckt und so geschehen in Wien am 27. November 1802.
»Danke, Sebastian«, flüsterte Helena und wischte sich über die Augen. »Ich werde dir deinen letzten Wunsch erfüllen. Der preußische König wird eine so armselige Kirche vorfinden, wie er noch keine in seinem Leben gesehen hat.«
Lukas schüttelte
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