Mädchen und der Leibarzt
als Infanterist vor ihm stand, erinnerte Helena unweigerlich an den Torwächter.
»Sagt mal, da sind doch Diener aus dem Stift unter den Uniformierten!«
»Ich sehe auch Bürger aus der Stadt unter den Infanteristen«,
rief Lukas und lehnte sich weiter aus dem Fenster.
Ernestine schlug sich vor die Stirn. »Deshalb sind sie von Haus zu Haus gegangen, um nach jungen Burschen zu fragen, die reiten können! Für die Empfangsparade! Bei mir haben sie sich erkundigt, ob ich ein Pferd zur Verfügung stellen könnte. Ich, ein Pferd! Sie haben mich noch darüber aufgeklärt, dass es aber kein Hengst sein dürfe, damit kein Unglück geschehe, und auch kein Schimmel, um eine einheitliche Farbe der Kavallerie zu gewährleisten. Als ob ich die Auswahl hätte …«
»Mich haben sie nicht gefragt, ob ich dabei sein will.« Borginino senkte den Kopf. »Ich hab nur bei meinen Streifzügen von den Vorbereitungen mitbekommen. Der Fürstäbtissin war es wohl ganz recht, mich mit der Bewachung von Helena betraut zu wissen, während ihr ein jüngerer und wesentlich flinkerer Leibdiener zur Hand gegangen ist … War mir dann auch gleichgültig. Sollte er doch kommen, der große Tag. Seht ihr die anderen Diener dort in den hellblauen Röcken mit den hochstehenden Krägen? Es haben sich tatsächlich alle die Haare geschnitten und die Bärte gründlich rasiert. Aber mich hat einfach niemand gefragt. «
»Sei nicht enttäuscht, Borginino.« Helena lächelte ihm aufmunternd zu. »Es ist bestimmt kein Vergnügen, in der Kälte stundenlang auf den König zu warten.«
»Du hast Recht. Außerdem bestand die Anweisung, ein Gewehr reingeputzt mitzubringen, mit drei blinden Patronen zu versehen und das Abfeuern der Salven zuvor entsprechend zu üben. Ich bin jedenfalls gespannt, wie sich die Dienerschaft anstellt.«
Kaum hatte er ausgesprochen, erhoben die Reiter ihre blankgeputzten Gewehre und gaben drei Salutschüsse ab. Unter neuerlichem Glockengeläut konnte Helena die Fahnen des Kommissionszuges ausmachen.
Sieben Kutschen näherten sich dem Stift in atemberaubendem Tempo. Was sie von oben sehen konnten, wurde der Versammlung im Hof durch ein doppeltes Kanonenfeuer kundgetan. Wie aus dem Nichts schritt die Fürstäbtissin über den Hof und stellte sich vor der Stiftskirche auf. Ihr folgten in einigem Abstand die Gräfinnen und schließlich auch der Äskulap, der seinen neuen Medizinkoffer bei sich trug.
Von überallher aus der Stadt kamen Frauen angelaufen. Mit den besten Kleidern am Leib drängten sie sich in den Stiftsbezirk, um ein Spalier zu bilden. Aufgereiht in ihren bunten Kleidern wirkten sie wie ein blumengesäumter Wegrand. Junge Frauen mit weißen Schürzen und Kränzchen im Haar, deren Gesichter vor Aufregung gerötet waren, schoben sich in die vorderste Reihe.
»Oh, da ist mein Mädchen, mein Mädchen! Seht ihr sie?«, rief Ernestine. »Dort läuft sie mit den anderen! Sie ist die Hübscheste von allen und wieder ganz gesund! Hoffentlich sieht sie der König …«
»Ernestine!«, schalt Helena mit gespieltem Ernst. »Wir sind hier nicht im Märchen! Außerdem ist der junge König bereits glücklich vermählt.«
»Ich weiß, ich weiß. Ich freue mich nur so!«
Die Leute begannen zu jubeln, sie klatschten in die Hände und winkten der sechsspännigen Kutsche zu, die nun in gemäßigtem Tempo das Stiftstor passierte und unmittelbar vor der Fürstäbtissin zum Stehen kam. Die jungen Frauen
eilten der festlichen Kutsche hinterher und bildeten eine Gasse, als diese anhielt. Der fein gekleidete Kutscher stieg ab und band die Zügel fest. Bevor er dem König mit einer tiefen Verbeugung den Schlag öffnete, überzeugte er sich, dass der Empfang an Glanz und Würde nichts zu wünschen übrigließ.
Ein Mann mit weißer Perücke stieg aus der Kutsche; es war jedoch unverkennbar nicht der König von Preußen. Er trug zwar einen Gehrock aus feinstem Zwirn sowie einen Orden auf der Brust, aber er war klein, nicht groß gewachsen wie der König. Der Mann grüßte huldvoll in die Menge und ließ sich vom Kutscher ein Pergament reichen, das er sorgfältig entrollte. Er räusperte sich und als er sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörerschaft gewiss sein konnte, begann er mit einer alles durchdringenden Stimme zu sprechen: »Der Zeitpunkt ist herangenaht, dass nach den Bestimmungen der vermittelnden Mächte Russland und Frankreich und nach den Beschlüssen der außerordentlichen Reichsdeputation von den bestimmten Entschädigungslanden
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