Mädchen und der Leibarzt
kommt …«
»Fort! Hier hat niemand etwas zu suchen! Ich zähle bis drei!«
»Es ist nur …«, der Diener wich zurück, »hier ist eine junge Frau, die zu Ihnen möchte.«
»Ist sie krank? Dann lass sie sofort ein! Patienten lässt man nicht vor der Türe stehen.«
»Nein, das ist sie nicht …«
»Dann soll sie verschwinden! Mit Bettelvolk habe ich nichts zu schaffen.«
Helena trat an dem Diener vorbei in den Raum, der einer Halle inmitten einer Höhle glich. Das Kerzenlicht tauchte den feuchten Stein in ein Lichtspiel aus gelben, rötlichen und dunkelbraunen Farben, vermochte aber kaum die hohen Gewölbedecken auszuleuchten. Seltsamerweise roch es recht angenehm. Natürlich. Er konnte sich Wachskerzen leisten.
Der Leibarzt saß in seiner stattlichen Kleidung auf der linken Seite seines Refugiums an einem mächtigen Schreibtisch, der auf hölzernen Löwenbeinen ruhte. Die sorgfältig geschnitzten Pranken wirkten in dem Licht täuschend echt. Er schrieb. Und erst als Helena sich vorsichtig näherte, hob er die Feder vom Pergament und rückte seinen samtbezogenen Lehnstuhl zurück. Ihre Blicke trafen sich, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Sieh einer an. Die kleine Hexe mit der niedlichen Fratze! Tritt dir gefälligst die Füße ab, hier herrscht Ordnung! Und komm mir bloß nicht zu nahe, so verlottert, wie du daherkommst! Wenn du zu Hause in deiner Hexenküche Krankheiten züchtest wie andere Leute Schweine, dann ist
das dein Problem.« Kaum zu Ende gesprochen, wandte er sich wieder seinen Aufzeichnungen zu. Die Feder kratzte scharf über das Papier, und Helena blieb unschlüssig stehen. Sie wartete auf die Aufforderung, das Zimmer zu verlassen, oder eine weitere bissige Bemerkung. Aber nichts dergleichen geschah.
Das spärliche Licht genügte ihr, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. An den fürstlichen Schreibtisch schloss sich ein einfacher Tisch mit einem Schemel an. Im rechten Teil des Raumes sah sie einen großen Behandlungsstuhl für die Patienten und allerlei Gerätschaften. Helena schüttelte fassungslos den Kopf. Unzählige Zangen, Scheren und Bohrer hingen an der Wand. Ordentlich nebeneinander. An Hirschgeweihen. Abgesehen von diesen Jagdtrophäen sah es aus wie bei einem Schreiner. Schrauben, Nägel, ein kleiner Hammer und verschieden große Sägen lagen auf einem Holztisch bereit. Gänsehaut überfiel sie. Nur nicht an eine Amputation denken, befahl sie sich.
Neben den Sägen lagen noch einige Zangen und etwas, das aussah wie die Miniaturausgabe eines Brunnenbohrers. Es war ein rundes Gestell vom Durchmesser eines Kopfes und in der Mitte ragte eine drehbare Schraube herab. Erschüttert wandte sie ihren Blick auf den leeren Behandlungsstuhl, an dessen Armlehnen der ausgefranste Stoff herunterhing. Sie mochte sich die Szenen nicht vorstellen, doch der rote Samtüberzug konnte nicht über die zahlreichen eingetrockneten Blutflecken hinwegtäuschen.
Hinter dem Stuhl entdeckte sie noch ein einfaches Balkengestell, konnte sich aber keinen Reim darauf machen, was das sein könnte. Mit einem Seitenblick auf den Leibarzt schlich sie näher. Aber auch bei genauerer Betrachtung
fiel ihr nichts Besonderes auf. Keine Schlingen, keine Löcher. Einfach nur ein hüfthoher Balken. Vermutlich durften sich die Kinder zur Behandlung hier draufsetzen.
Helena beließ es bei dieser Überlegung und näherte sich dem Kamin, in dem ein ansehnliches Feuer prasselte. Der Rauchabzug schien die einzige Verbindung zur Außenwelt zu sein. Daneben hing ein kleines Ölgemälde, das den Leibarzt mit einem Buch in Händen zeigte. Sie lächelte. Den leichten Bauchansatz konnte man auf dem Brustbild zwar nicht sehen, aber es war dem Maler trotzdem nicht gelungen, die kräftige Statur zu verbergen. Das Gesicht war sogar noch etwas dicklicher geraten als in Wirklichkeit, und die breite Nase und der kleine Mund verliehen dem Porträt eine gewisse Komik. Helena grinste in sich hinein, und das Bild lächelte freundlich zurück, weil der Maler die Zornesfalten ebenso wie die grimmigen Züge um den Mund kunstvoll übergangen hatte. Wie nett wäre es gewesen, hätte er sie so empfangen.
Neugierig sah sie an den wurmstichigen Regalbrettern entlang, die sich an den Kamin anschlossen. Sie waren mit dunklen Tierfellen ausgelegt und reichten ihr vom Knie bis über den Kopf. Unzählige Weinflaschen standen darauf, deren ursprüngliches Etikett überklebt worden war. Jemand hatte mit einer bizarren Handschrift lateinische
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