Mädchen und der Leibarzt
sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als er damit zur Tür hereingekommen war. Wie sie sich hinter dem Paravent umgezogen hatte, ihre Angst, dabei von jemandem entdeckt zu werden. Seine Berührungen, seine Fingerspitzen auf ihrem Rücken, auf ihrer Haut, während er das Kleid verschloss. Seine bewundernden Blicke, der stolze Glanz in seinen Augen. Es war der Tag gewesen, an dem sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
Die Zofe hatte ihr heute Morgen wieder einmal deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihr, der einzigen Österreicherin im Stift, nur widerwillig beim Ankleiden half. »Hier sind das Quälholz und Ihr Mieder.«
»Soll ich den Blankscheit etwa selbst in das Mieder schieben? « Aurelia, bekleidet nur mit weißen Seidenschuhen und einer wadenlangen Chemise, sah die Zofe fragend an.
»Gewiss«, kam es aus der anderen Ecke des Raumes, wo Crescentia Gräfin zu Stolberg-Gedern despektierlich den Inhalt der Reisetruhen betrachtete. »Meine Zofe ist schließlich nicht für alles zuständig. Sie steht nur leihweise in Ihren Diensten. Werte Gräfin Aurelia haben meiner Zofe
nichts zu befehligen, so lange Ihre Bemäntelung noch nicht stattgefunden hat. So lange gehören Sie nicht zu unserem Stift. Und selbst wenn die Äbtissin entgegen dem Willen von uns anderen Damen die Aufnahme vollziehen lässt – Sie werden hier immer die unerwünschte Fremde bleiben. Besser, Sie lassen sich eine Zofe aus Österreich kommen oder noch besser diesen Gregor. Der soll kommen und Sie endlich heiraten! Der feine Herr hat sich wahrlich schon lange nicht mehr im Stift blickenlassen …«
Crescentia Gräfin zu Stolberg-Gedern wandelte zum Tisch hinüber, und Aurelia verfolgte aus dem Augenwinkel ihre leichten, ungezwungenen Bewegungen in dem miederlosen, fließenden Musselinkleid, dessen Taillenschnitt bis unter die Brust gerutscht war und dort mit Schleifen und goldenen Kordeln gehalten wurde. Die Brüste waren hübsch betont, doch die übrige Figur versteckte sich unter einem bodenlangen, Rock, der die Taille luftig umspielte. Kein Mieder, kein Kissen, kein Quälholz. Aurelia starrte wie gebannt auf das bräunlich schimmernde Kleid, und ihre Hand wanderte unwillkürlich zu ihrem Bauch. Es wäre eine Möglichkeit … In einer ihrer Reisetruhen lagen zuunterst ein paar dieser modernen Kleider, die ihre älteren Schwestern schon nicht mehr hatten tragen wollen. Aber bei dem Gedanken, das Mieder abzulegen und keinen Halt mehr zu spüren, wurde ihr unwohl. Seit dem allerersten Besuch des Roten Barons war das Mieder immer da gewesen, wie eine zweite Haut, eine Stütze, die sie stärkte und ständig begleitete. Es gehörte zu ihr, genauso wie sie sich an die Sticheleien der Gräfinnen gewöhnt hatte. Es machte ihr nichts aus, seit nunmehr einem Jahr gegen den Strom zu schwimmen. Natürlich schmerzte es, sich den anderen nicht zugehörig
zu fühlen, aber der Kummer über die gehässigen Bemerkungen ließ sie wenigstens spüren, dass sie noch lebte, und er nährte gleichzeitig auch ihren Willen, weiterhin so zu sein, wie sie wollte. Gleichgültig, was andere Leute über sie redeten.
Die Gräfin zu Stolberg-Gedern begutachtete das unberührte Frühstück auf dem Silbertablett. »Haben Sie etwa Liebeskummer?«, stichelte sie. »Um Ihr Essen wird sich meine Zofe in Zukunft nicht mehr kümmern, soviel steht fest, und für Ihre Haare ist heute auch keine Zeit mehr. Die Frisur sitzt außerdem noch wie gestern. Konnte die arme, verlassene Geliebte nicht schlafen oder hat sie wegen der kunstvollen Haartracht die Nacht im Sitzen verbracht?«
»Das geht Sie überhaupt nichts an, werte Gräfin Crescentia. Und die Zofe hilft mir jetzt sofort beim Ankleiden …«
» Bitte heißt das.«
Aurelia verschlug es die Sprache. »Das reicht! Um zwölf Uhr ist Kapitelsitzung. Dort werde ich Ihr respektloses Benehmen mir gegenüber zur Anzeige bringen.«
»Und Sie sind tatsächlich der Meinung, dass dort irgendjemand Ihren Worten glauben wird?« Die Gräfin lächelte. »Also, wie heißt es so schön?«
»Verschwindet! Alle beide!«
»Wie Sie wollen. Wenn Sie gerne im Evaskostüm gehen möchten, wird sich Ihre Aussicht auf Bemäntelung noch mehr verschlechtern. Ich bin gespannt, wie sich die Fürstäbtissin gegen die anderen Stiftsdamen durchsetzen will. Ich würde mir an Ihrer Stelle keine großen Hoffnungen machen.«
»Die Zofe soll mir helfen. Sofort!«
»Bittet — so wird Euch gegeben.«
Das weiße Kleid saß perfekt, als die Zofe eine
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