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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Beerwald
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eine frühzeitige Austreibung könnte sie vor Strafe bewahren – sofern sie das Mittel aus der Höhle des Löwen unbeobachtet entwenden könnte.
    Sie machte sich auf zu den Regalen unter dem Schlangensymbol. Die Menge der medizinischen Bücher erschlug sie regelrecht. Ihre Hand reichte kaum an das oberste Holzbrett, das sich unter seiner Last gebogen hatte. Dicht an dicht waren die unterschiedlich großen, zumeist in Leder gebundenen Bücher aufgereiht, dazwischen standen vereinzelt Hefte mit Pergamenteinband.

    Aurelia überflog einige der in Gold gehaltenen Rückenprägungen : Abhandlung vom Ursprung, Verlauf, Natur und Heilung des Friesels , weiter unten drei Bände über Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe , daneben in Augenhöhe ein Buch mit Pergamenteinband und fleckigem Rückenschild: Gustav Schilling. Das Weib wie es ist . Aurelia ahnte, dass jeder Blick dorthinein verlorene Zeit sein würde. Stattdessen erregte ein dickes Buch ihr Interesse, dessen Gelenke vom häufigen Gebrauch gelockert waren. Mit zitternden Fingern nahm sie es in die Hand. Feine Körner rieselten lautlos zu Boden, als sie die erste Seite aufschlug: Sicherer und geschwinder Artzt. Handbuch der practischen Artzneymittellehre nach dem Alphabete geordnet.
    Fieberhaft blätterte sie die Seiten um. Liebstöckel, Nelkenwurzel, Opium, Petersiliensamen. Hier. Petroselinum crispum. Der Legende nach ist die Petersilie ein Gewächs des Teufels und keimt erst nach sieben Wochen, weil das Peterlein derweilen in Rom die Erlaubnis zum Keimen holen muss. Die Petersilie ist von kräftigender Natur. Sie bringt den Mann aufs Pferd und die Frau unter die Erd’. Der Genuss eines Stehsalates beschert dem Manne die notwendige Kraft in den Lenden, ein Sud aus Petersiliensamen verhilft dem Weibe zur Anstoßung des Monatsf lusses, wenn sie es in der richtigen Menge anzuwenden weiß. Ansonsten führt das Apiol der Petersilie zur qualvollen Vergiftung.
    Aurelia schluckte. Qualvolle Vergiftung. Das war ihr neu. Sie hatte nur gewusst, dass man die Straße, in der Frauen bestimmte Dienste anboten, aus gutem Grund Petersiliengasse nannte, nicht aber, wie gefährlich das Kraut sein konnte. Woher sollte sie denn wissen, welche Quantität anzuwenden war?

    Sie blätterte weiter, Seite um Seite suchte sie nach Beschreibungen austreibender Mittel. Überall, wo die Rede von einer Beförderung des stockenden Monatsflusses war, hielt sie inne.
    Wohlverleihblumen. Flores Arnicae. Die Arnikablumen sind eines der vortrefflichsten Reizmittel, das wir kennen. Bei entzündlichen Zufällen macht man von Einreibungen oder Umschlägen Gebrauch. Außerdem sind sie als Auflösungsmittel bei Stockungen des Bluts und anderer Säfte sehr dienlich, insbesondere zur Wiederherstellung des unzeitig unterbrochenen Monatsflusses. Bei der innerlichen Einnahme soll das Weib jedoch äußerste Vorsicht walten lassen. Übelkeit, Durchfall, Zittern und Schwindel lassen auf eine Vergiftung schließen. Der unordentliche Gebrauch endet tödlich.
    Flores Arnicae. Aurelia hob ihren Blick von den Zeilen und starrte ins Leere. Auch hier war eine Warnung herauszulesen … Langsam blätterte sie weiter. Doch auch bei anderen Mitteln las sie ähnliche Dinge. Brandige Gliedmaßen, unstillbare Blutungen, Lähmungen, krampfartige Zufälle und am Ende jeder Beschreibung fand sich immer dasselbe Wort: Tod.

    Seit dem Morgen hatte Helena dem stillen Tanz seiner Feder zugesehen. Keine Antworten, keine Erklärungen. Nur das Kratzen der Feder auf dem Papier. Im Schein des Feuers warfen die Hirschgeweihe bizarre Figuren an die Höhlenwände und trieben ein Spiel mit ihrer Fantasie.
    Über dem Behandlungsstuhl erschien Friedemar. Ein langer Schatten als Eisenstange, dünne Finger, die nach einer
Gestalt griffen. Ein aussichtsloser Kampf ums Überleben. Ein dumpfer Schlag. Holzscheite fielen ineinander, die Gestalt prallte auf Friedemar und beide verschmolzen mit der Dunkelheit. Übrig blieben die Schatten der Hirschgeweihe.
    Von draußen glaubte Helena Schritte zu hören. Sie beobachtete den Leibarzt, doch der reagierte nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sie nun auf die Türe. Vielleicht war es die kleine Lea mit ihrer Mutter. Bald war es Mittag, und sie hatte die Hoffnung beinahe schon aufgegeben, in die lebendigen Augen eines Kindes zu sehen, das sich von schwerer Krankheit erholt hatte. Sie wartete, aber nichts geschah. Nur die Tropfen von der Höhlendecke

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