Mädchen und der Leibarzt
durchbrachen ab und zu die Stille.
Noch immer haderte sie mit ihrer Entscheidung, im Stift zu bleiben. Die Fürstäbtissin begrüßte ihre Anwesenheit und war sehr angetan von ihrem Wunsch, sich als Frau in der Medizin weiterzubilden. Von ihr konnte Helena jede nur denkbare Unterstützung erwarten.
Da erhob sich der Leibarzt unvermittelt und öffnete die Türe, ohne dass sie ein Klopfen gehört hätte. War also doch jemand draußen gestanden. »Das wurde aber auch Zeit, dass sich der elende Diener hierherbequemt hat«, knurrte er vor sich hin, während er eine Holzkiste hereintrug. Es raschelte darin, als er sie auf dem Boden abstellte. »Wenn ich dich schon auf Geheiß der Äbtissin zu meinen Visitationen mitnehmen muss … Mir wird schon ganz übel bei der Vorstellung. Aber was nehme ich nicht alles auf mich. So. Und jetzt schließ die Augen.«
»Wie bitte?«
»Du sollst die Augen schließen. Oder willst du zu meinem guten Glück nicht mit zur Visitation?«
»Doch, doch.« Verwundert leistete sie seiner Anordnung Folge. Sie erschrak, als der Leibarzt ihr die Holzkiste auf den Schoß stellte, und kniff mühsam ihre Augen zusammen, damit ihre Neugierde ihr keinen Streich spielte.
»Nun, was hörst du?«
Sie lauschte. »Nichts. Vorhin hat es darin geraschelt, aber nun höre ich nichts mehr.«
»Gut. Immerhin scheinen deine Ohren in Ordnung zu sein. Du musst auch ohne zu sehen eine Diagnose stellen können. Wenn ein Katheter in der Blase an einen Stein stößt, so lehrt dich nämlich das Geräusch, es sei wahrhaftig ein Stein vorhanden. Nun sollten wir aber herausfinden, warum das Tier nicht mehr raschelt.«
»Ein Tier? Was für eines ist es denn?« Vor Aufregung hätte sie beinahe die Augen geöffnet, als er den Deckel herunternahm. »Soll ich hineingreifen?«
»Taste, ob dir in der Kiste etwas ungewöhnlich vorkommt. Auch bei der Untersuchung eines menschlichen Körpers bist du oftmals auf deinen Tastsinn angewiesen. Die meisten Krankheiten liegen im Inneren verborgen, alsdann hilft das schärfste Auge nichts.«
Beherzt fasste Helena in die Kiste und zuckte sogleich zurück. »Es hat mich etwas gestochen!«
»Na, so etwas. Dann musst du es noch einmal versuchen und etwas vorsichtiger sein. Kranke Menschen sind auch nicht immer sanftmütig.«
Helena schluckte und tastete noch einmal behutsam in die Kiste, bis sie viele kleine Stiche an den Fingerspitzen spürte. Langsam erspürte ihre Hand eine rundliche Form. Helena musste unwillkürlich grinsen. Diesen Test hatte sie bestanden. »Ein Igel, ich glaube, es ist ein Igel!«
»So, so. Du glaubst .«
Sie setzte sich aufrecht hin. »Nein, ich bin mir sicher. Ganz sicher. Es ist ein Igel!«
»Welchen Geruch verströmt das Tier?«
Sie atmete tief ein. Und noch einmal. Nichts. Nur der Rauch des Feuers in der feuchten Luft. »Ich rieche nichts.«
»Das ist schlecht. Denn nur so kannst du ein faulendes Geschwür von einem gutartigen unterscheiden. Wie haben das denn die armen Frauen unter deinen Händen überlebt, wenn du das Wasser aus dem Leibe der Gebärenden nicht riechst? Der mögliche Gestank dieser Flüssigkeit müsste dich doch zu höchster Eile angetrieben haben! Du riechst also wirklich nichts? Das ist merkwürdig. Zwar versucht der Igel seinen Eigengeruch zu überdecken, indem er große Mengen seines neutralen Speichels mit seiner Zunge auf seinen Rücken schleudert, aber du riechst ganz sicher nichts?«
Helena tauchte mit dem Kopf halb in die Kiste ein und hielt dabei sicherheitshalber ihre Hand als Schutz vor ihre Nase, damit sie sich nicht stach. Diesen Gefallen wollte sie dem Leibarzt nicht auch noch tun. Aber sie blieb dabei, sie roch nichts. Nicht der Hauch eines Duftes war auszumachen.
»Gib dir keine Mühe mehr und öffne die Augen. Wenigstens scheinen alle deine Sinne in Ordnung zu sein, wenn auch das Ergebnis noch sehr zu wünschen übriglässt.«
Helena schaute verwundert auf.
Der Leibarzt nahm ihr die Kiste vom Schoß und ging damit zur Türe. »Wahrhaftig, so ein Kaktus kann schon ein prächtiger Igel sein.«
Helena atmete tief durch, bevor es aus ihr herausplatzte: »Warum tun Sie das? Warum sind Sie so hinterhältig?«
Der Äskulap drehte sich langsam zu ihr um. Seine weiße Perücke leuchtete im Schein des Feuers, doch sein Gesicht lag im Dunkeln. »Möchtest du etwas lernen oder nicht?«, fragte er mit Schärfe in der Stimme.
Helena stand ruckartig auf. »Natürlich möchte ich etwas lernen, aber doch nicht so! Sie haben
Weitere Kostenlose Bücher