Mädchen und der Leibarzt
Blickes, als sie nach dem Ring im Löwenmaul griff und anklopfte.
Als niemand Antwort gab, öffnete sie die Türe und schaute sich suchend in der Höhle um. Sie entdeckte den Leibarzt vor dem Medizinregal. Als sie näher trat, wirbelte er herum; dabei entglitt ihm beinahe eine Flasche Quecksilberwasser aus den Händen.
»Ihr Weiber seid doch wie die Ratten! Mit dicken Bäuchen umherschleichen und mich zu Tode erschrecken, mehr könnt ihr nicht!«
Helena überging seinen Ausbruch und wollte gleich zur Sache kommen. »Guten Tag, werter Monsieur Dottore Tobler. Würden Sie mir bitte etwas Wohlverleihessenz aushändigen? «
»Dir könnte einfacher geholfen werden! Du solltest dich nicht mit Sachen beschäftigen, die dich überfordern. Sodann würde dein Geblüt auch nicht verstopfen. Deshalb ist bei dir zu viel gelbe Galle im Körper, das lässt dich cholerisch werden. Du solltest deine Kardinalsäfte wirklich einem Aderlass unterziehen. Das habe ich dir schon bei deiner Ankunft empfohlen.«
Helena vergaß ihre sorgsam zurechtgelegten Worte und dachte nicht an die Folgen, als es aus ihr heraussprudelte: »Ich habe gelesen, dass eine Krankheit nicht durch das Ungleichgewicht von Blut, schwarzer und gelber Galle und Schleim entsteht! Vielmehr durch ein fehlerhaftes Organ, in dem sich eine kranke Seele zu äußern versucht! Fast alle Krankheiten entstehen in der Seele. Diese selbst versucht sodann durch eigene Heilanstrengungen, wie körperliche Hitze und zwanghafte Schwäche, der Krankheit zu begegnen. Man soll diese Bemühungen durch die Gemütsberuhigung
des Patienten fördern und nur im Notfall zu Aderlass oder Klistieren greifen!«
Der Äskulap blieb erstaunlich gelassen. »Willst du mir weismachen, dass der Aderlass eine unsinnige Behandlung ist? Seit Jahrhunderten wird er bei sthenischen Leiden angewandt, um die Erregbarkeit im allzu leicht reizbaren Körper zu dämpfen. Und jetzt kommst du daher und behauptest, das sei alles Unsinn, nur weil du das in einem der volksmedizinischen Bauernkalender gelesen hast?« Er lächelte, als er mit seiner Erwiderung geendet hatte, und das machte sie noch wütender.
»Es gibt genügend gelehrte Ärzte, die der Meinung sind, dass alle Erkrankungen des Körpers auf die Seele zurückgehen. Sie brauchen nur bei Stahl, Hunter oder Hufeland nachzulesen. Ganz, wie Ihnen beliebt.«
»Nicht notwendig. Wenn alle Erkrankungen auf die Seele zurückgehen, ist ein Vorgehen gegen die Blattern unsinnig – und damit wäre einmal mehr bewiesen, dass ich mit meinen Ansichten richtigliege.«
»Die Blattern haben natürlich nichts mit einer kranken Seele zu tun! Genauso wenig wie ein gebrochenes Bein. Wenn wir den Blatternversuch durchführen, wissen wir, ob wir ein Gegenmittel gefunden haben. Aber Sie hören mir ja nicht einmal zu!«
Der Leibarzt kehrte ihr den Rücken und schritt zu seinem Schreibtisch. Dort ließ er sich auf seinem Lehnstuhl nieder und faltete die Hände vor dem Bauch. »Das will ich gerne tun, wenn du mir einmal in Ruhe und in zusammenhängenden Sätzen erklären würdest, wie du diesen Versuch überhaupt durchführen willst.«
Helena glaubte zu träumen. Aber er hatte Recht: Bisher
hatte sie ihm nur irgendwelche aus dem Zusammenhang gerissene Fetzen serviert. Jetzt die richtigen Worte wählen, nur nichts Falsches sagen. Sie atmete tief durch. »Bei den Kuhpocken handelt es sich um eine harmlose Erkrankung. Für Mensch und Tier gleichermaßen ungefährlich. Das Euter der Kuh ist mit Pusteln übersät, diese entzünden sich, verkrusten dann und fallen schließlich …«
»Du brauchst mir keinen Vortrag darüber zu halten, was Kuhpocken sind. Komm endlich zu dem Versuch.«
»Gewiss. Sofort. Die Melker können an ihren Händen diese Knoten bekommen. Die Krankheit ist also vom Tier auf den Menschen übertragbar.«
»Aha, und warum bekommen die Kühe sodann keine menschlichen Blattern?«
»Das … nun ja, das weiß ich nicht. Aber jedenfalls bekommen die Melker keine Blattern, wenn sie diese Knoten hatten. Das hat man beobachtet.«
»So, so. Beobachtet . Das kann Zufall sein. Wer sagt denn, dass es an den Kuhpocken liegt?«
»Nun ja, gerade das gelte es ja nachzuweisen. Es käme eben auf einen Versuch an.«
»Und wie soll dieser aussehen?«
»Man müsste auf die Dorfweide gehen und etwas Flüssigkeit aus der Pustel am Euter entnehmen. Dabei müsste man allerdings darauf achten, dass die Pustel nicht zu alt ist. Wenn sie nämlich verkrustet ist, überträgt sie sich
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