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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Beerwald
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stehen.
    Unterbrochen vom Geläut einer kleinen Glocke in seiner Hand sagte er etwas, monoton, gleichmäßig, die Worte schienen sich ständig zu wiederholen. Als er näher an sie
herankam, erkannte sie auch die Gestalt unter der Kapuze: Es war der Diener Borginino.
    »Hört, hört ihr lieben Leut, ihr müsst geh’n zum Haus der Wäscherin, zu beklagen sind dort sechs arme Leut. Gehet hin und betet für die Seelen … Hört, hört ihr lieben Leut, ihr müsst geh’n zum Haus des Schäfers, zu beklagen sind dort vier arme Leut. Gehet hin und betet für die Seelen … Hört, hört ihr lieben Leut, ihr seid gerufen zum Begräbnis des Stiftsboten und seinem Weib …«
    »Borginino!«
    »Gott zum Gruße, Helena.« Er blieb stehen und lächelte ihr zaghaft zu. »Ja, ja, schlimm ist es geworden. Weiß gar nicht, wen ich zuerst verkünden soll. Einige aus der Dienerschaft hat es getroffen.«
    »Die Blattern?«, fragte Helena atemlos.
    Borginino nickte. »Schwarze Blattern. Es hat nicht lang gedauert.«
    Helena wurde flau im Magen. »Aber warum hat der Äskulap nichts davon gesagt?«
    Borginino zog die Stirn kraus. »Weil man ihn nicht gerufen hat. Wozu auch? Fürs Sterben braucht man einen Pfarrer, keinen Medicus.« Er lächelte, offenbar ließ seine Verzweiflung nichts anderes zu.
    »Man hätte aber den Leuten vielleicht noch helfen können!«
    »Ach, woher. Wer die Schwarzen Blattern zur Tür reinbringt, verlässt das Haus im Sarg. Das weißt du so gut wie ich. Schlimm ist es hier geworden, schrecklich, schrecklich …«
    Helena sah den Diener von der Seite an und wartete darauf, dass sein ratloses Lächeln endlich einer geziemenden
Leichenbittermiene wich. Doch nichts dergleichen geschah. »Warum lächeln Sie eigentlich dauernd?« Sie gab sich keine Mühe, ihren gereizten Unterton zu verbergen.
    »Oh, Verzeihung … Verzeihung!« Borginino wischte sich über den Mund, als könnte er es damit vertreiben. »Ist angeboren, sehen Sie? Die Oberlippe ist falsch, sie ist zu kurz und zwingt mich zum Lächeln. Es tut mir leid. Bin schon oft dafür bestraft worden. Wieder und wieder …« Er hob den Blick. »Doch wer glaubt schon einem lächelnden Diener, dass er leidet?«
    Helena sah betreten zu Boden.
    »Dabei ahnt keiner, was in mir vorgeht, wenn ich hier die Leichen verkünden muss. Keiner sieht, wie’s mir wirklich geht, weil ich immer lächle. Alle glauben, ich wäre überheblich, weil ich als Kind die Blattern überlebt habe.«
    Borginino wandte sich ab, um vor dem windschiefen Haus, vor dem sie standen, ein Strohkreuz niederzulegen, zum Zeichen, dass dort jemand gestorben sei. »Gestern waren sie noch da. Schlimm ist das … und es werden immer mehr. Seltsam, hier liegt ja schon ein Strohkreuz.« Borginino schüttelte verwirrt den Kopf. »Ach so, das Haus des Stiftsboten, hier war ich vorhin ja schon. Alles der Reihe nach, auch wenn’s durcheinandergeht.« Er holte tief Luft und formte die Hände zu einem Trichter. »Hört, hört ihr lieben Leut, ihr seid gerufen zum Begräbnis des Stiftsboten und seinem Weib. Hört, hört ihr lieben Leut, folget dem Leichnam ans Grab und erweiset ihm die letzte Ehre.«
    Kaum hatte er geendet, öffnete sich nebenan die schmale Brettertür. Zwei Männer trugen einen in ein dunkles Tuch eingenähten Toten auf einer hölzernen Bahre aus der Stube. Bevor sie mit ihm die Türschwelle überschritten, ließen sie
die Bahre dreimal nieder, ein Brauch, damit der Tote das rasche Entfernen aus dem Haus nicht übelnahm und eines Tages zurückkehrte. Der zweite Leichnam folgte auf dieselbe Weise. Niemand schloss sich dem Leichenzug an.
    »Die Männer sind schon ins Wirtshaus vorausgegangen«, ergänzte Borginino, der Helenas Blick gefolgt war. »Die können nicht mal abwarten, bis die Toten mit gelöschtem Kalk bedeckt sind und die Erde über ihnen festgetrampelt ist!«
    »Wie kann man nur in Zeiten der Blattern einen Leichenschmaus abhalten? Wenn nun schon der nächste das Gift in sich trägt?«
    »Erklär das mal hungrigen Leuten, die gerade etwas umsonst zu essen bekommen. Du würdest nur Spott ernten, während sie aus vollen Tellern schöpfen.«
    Helena brachte keine Erwiderung zustande, denn die Bahrenträger kamen auf sie zu. Im Takt ihres Gleichschrittes schwankten zwei schwarze Bündel Mensch auf den Brettern an ihr vorbei. Namenlos gewordene Menschen, ohne Abschied aus dem Leben gerissen.
    »Schlimm ist es geworden, schlimm …«, hörte sie Borginino murmeln. »Ich muss weiter und noch ein

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