Mädchen und der Leibarzt
paar Leichen verkünden.«
»Warten Sie!« Helena musste ihre Frage loswerden. »Auch Lea, die Tochter des Stallmeisters?«
»Lea, die Tochter des Stallmeisters …« Sein Blick streifte das übernächste Haus, dessen Ziegeldach von feinen Nebelschwaden umhüllt war. Es schien, als stieße das obere Kammerfenster direkt an den mit tiefen Wolken verhangenen Himmel. »Die Frau Mutter hat sich gestern bei mir erkundigt, was der Pfarrer wohl für eine Beerdigung verlangt,
aber als Leichenbitter brauchte sie mich nicht. Entweder noch nicht, oder vielleicht glaubt sie jemanden zu finden, der die Arbeit für einen halben Kreuzer pro Haus macht. Was weiß ich. Habe mich nicht länger aufgehalten. Konnte das Elend einfach nicht länger ertragen, auch wenn es mir wieder mal keiner angemerkt hat.«
Helena dankte Borginino, der sich weiter seines Weges machte, und ging zur Haustüre. Zögernd drückte sie gegen das durchfeuchtete, dunkle Holz und betrat die Küche. Ein beißender Geruch schlug ihr entgegen, jener Geruch, der von reifen Blattern zeugte, manche sagten, so rieche der Atem des Sensenmanns. Vermischt mit der Notdurft des Kranken ein beinahe unerträglicher Hilfeschrei.
Kein Feuer brannte mehr auf dem Herd, die wenige Glut spendete kaum noch Wärme, und ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Sie schaute die steile Treppe hinauf nach dem schwachen Kerzenschein, der kaum bis an die Stufen heranreichte.
»Ist jemand da?«, rief sie mit gedämpfter Stimme. »Ich bin es, Helena.«
»Helena!«, kam der erfreute Ausruf der Mutter zurück. »Gut, dass du kommst! Bringst du mir bitte den Gerstenbrei nach oben?«
Helena horchte zuerst ungläubig nach, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Lea konnte essen, Lea konnte essen! , jubelte sie. Sodann saß der Tod noch nicht mit am Tisch.
»Gewiss, ich komme schon!« Sie stellte den Beutel ab und griff nach der kleinen Tonschüssel mit gequollenen Gerstenkörnern neben dem Herd. So schnell wie möglich eilte sie damit die Stufen hinauf.
Oben angelangt erstarb ihr Lächeln. Die Mutter hatte das kleine Bett vor das offene Kammerfenster gestellt und die Türe sperrangelweit aufgerissen, damit es keinen Kampf mit dem Tod geben würde und dieser ungehindert eintreten konnte. Bleich und mit eingefallenen Wangen saß sie neben dem kleinen Bett, ihre Augen waren schwarzumrändert, die langen Haare zerzaust, und sie trug noch immer das dunkelgrüne Kleid, als hätte sie sich seither nicht von der Stelle gerührt. Auf ihrem Schoß lag ein weißes Leinenhemd in Leas Größe, bei dem sie eben die letzte Naht schloss. Mit dem restlichen Faden schnürte sie mit zitternden Händen ein paar grüne Buchsbaumzweige zu einem Sterbekränzchen und legte es auf den Nachtkasten. Dort wachten bereits ein Kruzifix und eine weiße Kerze über Lea. Die kleine Flamme kämpfte mit dem Luftzug, bog sich, krümmte sich und stand im letzten Moment wieder auf.
Lea lag wimmernd auf dem Rücken, ihre kleinen Hände waren mit fleckigen, grauen Tüchern fest umwickelt, trotzdem versuchte sie sich zu kratzen. Sie schabte über ihre Arme, über die gelben, manchmal schon braunen oder schwarzen Krusten, rieb sich über die befallenen, verquollenen Augen und bäumte sich dabei auf. Keine Träne trat aus ihren Augenwinkeln, die Lider waren verklebt, und sie schlug mit verbundenen Fäusten um sich. Sie traf sich im Gesicht, stieß einen schmerzdurchtränkten Schrei aus und warf den Kopf hin und her. Haare blieben auf dem Kissen haften, Haare, die in der verschorften Kopfhaut keinen Halt mehr gefunden hatten.
Die Mutter nahm Helena mit zitternder Hand die Breischüssel ab, stellte sie auf den Nachtkasten und betrachtete ihre Tochter mit einem zärtlichen Lächeln. »Als Beigabe für
ihre letzte Reise. Damit sie auf dem weiten Weg keinen Hunger leiden muss. Sie hat doch in den vergangenen Tagen nichts gegessen.«
»Bitte, Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben! Hat Lea den Kampfersud bei sich behalten?«
»Manchmal.«
»Das ist doch wunderbar!«
»Aber die vereiterten Pusteln …« Die Mutter schlug die Bettdecke zurück. »Sieh doch nur.« Vorsichtig versuchte sie ihrem Kind das schmutzige Leinenhemdchen nach oben zu schieben, doch der Stoff klebte fest. Lea zuckte zusammen.
»Lassen Sie, lassen Sie! Mit der Vereiterung ist der Zenit erreicht, danach heilen die Blattern ab. Es dürfen sich jetzt nur keine Gifte unter den Krusten einschließen.«
»Aber das schmutzige Hemd
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