Maedchenauge
angekommen. Wir waren irrsinnig müde und sind sofort eingeschlafen.«
»Na, da hast du vielleicht etwas versäumt?«, frage Lily neckisch.
»Sicher nicht. Er ist süß und lieb, aber … eben völlig hilflos. Ich glaube nicht, dass der weiß, was guter Sex ist. Natürlich war er enttäuscht, dass nichts gewesen ist. Weil ich seine Lieblingsmoderatorin bin, hat er gesagt, und er mich immer schon verehrt hat und meine Stimme so liebt. Das war herzig von ihm. Nur bin ich mir in diesem Studentenambiente plötzlich so erwachsen vorgekommen … Darauf kann ich verzichten. Frühstück hat es auch keins gegeben. Na ja, wenigstens habe ich mir keine Ausrede einfallen lassen müssen, um mich bald zu verabschieden.«
»Und, triffst du ihn wieder?«
»Eher nicht. Er ist irgendwie … zu fad. Nett allein ist nicht abendfüllend. Und wie geht es dir, Lily? Das muss eine schrecklich kurze Nacht für dich gewesen sein. Ich habe mir ohnehin schon Vorwürfe gemacht, dich dorthin geschleppt zu haben.«
»Blödsinn. Es war schon okay. Du hast recht, ich darf nicht leben wie in einer Kartause … Aber sag, erinnerst du dich zufällig an einen jungen, gutaussehenden, dunkelhaarigen Mann Mitte zwanzig, der …«
»Sicher, der hat dich die ganze Zeit beobachtet.«
»Kennst du ihn?«
»Der muss der Einzige gewesen sein, mit dem ich mich nicht unterhalten habe. Hat er dir gefallen?«
»Er ist mir auf die Straße gefolgt.«
Albine war wie elektrisiert. »Wie bitte? Das gibt es doch nicht. Was hat er dann gemacht?«
»Er ist mir nachgegangen.«
»Bis zu dir nach Hause?
»Nur bis zum Ring.«
»Hat er irgendetwas … Ich meine, ist er dir gefährlich vorgekommen?«
»Ich weiß nicht … Angenehm war es jedenfalls nicht.«
»Kann ich mir vorstellen. Jetzt, wo es diese Morde gibt, und du noch dazu die Staatsanwältin bist … Ich werde Christoph fragen. Der muss ja wissen, wer das war.«
»Bitte mach das.«
»Privat solltest du dich schon entspannen können, ohne dass gleich irgendein Trottel … Es ist sicher stressig für dich. Ich halte dir die Daumen, dass du erfolgreich bist. Und einen netten Mann kriegst, der zu dir passt. Du musst ihn ja nicht gleich heiraten. Aber verhaften kannst du ihn ja lassen, wenn er dir gefällt.«
»Na ja, Albine … Momentan bin ich mit diesem Fall dermaßen beschäftigt … Das wird noch etwas dauern.«
Albine war plötzlich leiser geworden. »Gut wäre es schon …«
Sie schwieg.
» Was wäre gut?«, fragte Lily behutsam.
»Na, wenn du diese Sache rasch aufklären kannst. Es liegt ein Schleier über Wien. Wir haben Sommer, es ist angenehm warm, alle sind eigentlich total entspannt … dennoch gibt es im Hintergrund … etwas wie Angst in dieser Stadt. Man kann versuchen, sich abzulenken. Aber das komische Gefühl bleibt. Eigenartig, weißt du. Ich kenne ein paar junge Frauen, die sich fürchten, nachts allein nach Hause zu gehen. Oder sogar allein zu Hause zu sein … Ist es wirklich so schlimm, Lily? Muss man sich Sorgen machen, auch … wenn man vorsichtig ist?«
»Wir haben ein Problem, Albine. Wann der Tag kommt, an dem dieses Problem gelöst sein wird, weiß ich nicht. Aber er wird kommen, das verspreche ich dir.«
Lily gähnte.
Albine verstand das Signal, wünschte der Freundin einen erholsamen Schlaf und verabschiedete sich.
Ihr Handy ließ Lily im Wohnzimmer liegen. Sie schlurfte müde ins Schlafzimmer. Die Erschöpfung übermannte sie sofort und sie schlief augenblicklich ein, tief und fest.
Als zwei Stunden später, kurz nach zweiundzwanzig Uhr, der Anruf kam, bemerkte Lily gar nichts.
Sanft vibrierte das Handy und blieb unberührt.
Samstag, 19. Juni
24
In der Nacht hatte es geregnet. Die Stadt hatte ihre staubige Patina eingebüßt. Klarer und reiner schien die Luft zu sein. Die letzten Wolken hatten sich bereits verzogen.
Lily öffnete ihre Augen, während die Glocke der Votivkirche achtmal schlug. Lily zählte mit und rechnete erstaunt nach. Das bedeutete, dass sie rund zwölf Stunden geschlafen haben musste. Offenbar hatte es ihr Körper dringend nötig gehabt, sich so lange auszuruhen. Lily setzte sich in ihrem Bett auf und rieb sich die Augen. Sie horchte in ihren Körper hinein und achtete auf dessen Signale. Dabei empfand sie ein lange vermisstes Wohlbefinden, etwas, das sie seit der ersten Zeit in New York nicht mehr so intensiv verspürt hatte. Sie fühlte sich erholt und ausgeglichen, entspannt und energiegeladen. Die Gedanken, die in den vergangenen Tagen
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