Maedchenjagd
schwächer. Niemand hatte die Polizei gerufen. Ihre Höllenqualen waren unbemerkt geblieben.
Die Zeit schien stillzustehen, während sie ihre Tochter wiegte und ihrem herzzerreißenden Schluchzen lauschte. Eine Million Gedanken rasten durch ihren Kopf. Zwei- oder dreimal versuchte sie, sich loszumachen, um die Polizei zu rufen. Doch Shana klammerte sich so fest an sie, dass sie es aufgab. Er war längst fort, hatte sich im Dunkel der Nacht verloren. Sie spielte jedes schmutzige Detail im Geiste noch einmal ab. Die Wut wurde zu einem harten Knoten in ihrem Magen und spie Galle in ihren Mund.
»Shana, mein Schatz, ich steh kurz auf, bin aber gleich zurück. Ich hole dir einen Waschlappen aus dem Bad, und dann rufe ich die Polizei und deinen Vater an.« Lily löste sich langsam von Shana, zog sich den Bademantel über die Schulter und knotete ihn locker zusammen. Die Wut beruhigte sie, und sie bewegte sich wie ein Automat mit einem großen, rüttelnden Motor.
»Nein!« Shanas Schrei gellte mit einer fremden Stimme. »Du darfst Dad nicht erzählen, was er getan hat.« Sie streckte den Arm aus und griff nach Lilys Bademantel, so dass er aufging und ihren nackten Körper entblößte. Lily band ihn schnell wieder zu. »Du darfst es niemandem erzählen.«
Sie hatte das Gesicht und die Stimme eines Kindes, doch die Augen einer Frau. Nie mehr würde sie Kind sein, nie mehr wäre die Welt ein sicherer, angstfreier Ort. Lily presste die Hand auf ihren Mund und biss sich auf die Knöchel, um den Schrei, der in ihr aufkeimte, zu ersticken. »Wir müssen die Polizei rufen. Und wir müssen Daddy anrufen.«
»Nein«, schrie Shana wieder. »Ich glaube, ich muss brechen.«
Shana rannte ins Badezimmer und erbrach sich auf den Boden, bevor sie die Toilette erreichen konnte. Lily setzte sich neben sie auf den Fußboden und wischte ihr das Gesicht mit einem feuchten Handtuch ab. Sie ging zum Arzneischrank und holte ein Fläschchen mit Valium heraus, das ihr der Arzt kürzlich gegen ihre Schlaflosigkeit verschrieben hatte. Ihre Hände zitterten, als sie zwei Tabletten herausschüttelte, eine für sich selbst und eine für Shana. »Nimm die«, sagte sie und reichte ihr die Tablette zusammen mit einem Pappbecher voll Wasser. »Die wird dich beruhigen.«
Shana schluckte die Tablette und sah mit großen Augen zu, wie auch ihre Mutter sich eine in den Mund schob. Sie ließ sich von Lily zurück zum Bett führen. Wieder hielt Lily ihr Kind fest in den Armen.
»Wir werden Daddy anrufen, und dann bringen wir dich nach Hause. Ich werde die Polizei nicht anrufen, aber ich werde es Daddy erzählen. Wir müssen es tun, Shana.«
Lily wusste zu gut, was sie ihrer Tochter zumuten würde, wenn sie das Verbrechen anzeigte. Die Polizei würde sie stundenlang befragen, sie zwingen, den Alptraum noch einmal zu durchleben, und jedes Detail würde sich für immer in ihrer Erinnerung einbrennen. Dann müssten sie ins Krankenhaus und zur gerichtsmedizinischen Untersuchung. Sie würden Shanas geschundenen Körper untersuchen, ihr Schamhaar kämmen, um die
DNA
des Täters zu ermitteln. Sie würden Abstriche machen. Wenn die Polizei ihn fasste, dann würden Zeugenaussagen und Auftritte bei Gericht für Monate ihr Leben bestimmen. Shana müsste im Zeugenstand sitzen und die furchtbaren Details dieser Nacht in einem Raum voller Fremder wiedergeben. Sie müsste die Zeugenaussage mit dem Staatsanwalt einstudieren wie die Textpassagen eines Schauspielers. Und im selben Raum säße auch er, dieselbe Luft wie sie würde auch er atmen. Das Martyrium würde allgemein bekannt werden.
Der schlimmste Gedanke aber, eine Tatsache, derer sich Lily nur zu bewusst war: Nach allem, was sie erlitten hatten und noch erleiden würden, wenn die Alpträume noch frisch und lebendig wären, bevor sie überhaupt anfangen könnten, ein normales Leben zu führen, wäre er bereits wieder frei. Das Strafmaß für Vergewaltigung lag bei acht Jahren, Bewährung nach vier. Außerdem würde ihm die Zeit angerechnet, die er während und vor der Verhandlung in Untersuchungshaft verbrachte, so dass er, wenn alles vorbei war, kaum mehr als drei mickrige Jahre im Gefängnis vor sich hatte. Nein, dachte Lily, vielleicht würde er für den Oralverkehr eine Anschlussstrafe bekommen, ein paar Jahre dazu. Doch es war nicht genug. Es wäre niemals genug. Und sie war sich sicher, dass er andere brutale Verbrechen begangen hatte. Sie erinnerte sich an den Geschmack von getrocknetem, altem Blut auf
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