Maedchenjagd
seinem Messer, und sie ahnte, dass er jemanden getötet hatte. Auch das heutige Verbrechen war Mord, die Vernichtung der Unschuld.
Außerdem musste sie an ihre berufliche Karriere denken, ihr Lebenswerk. Wenn sie Richterin am Superior Court wäre, könnte sie zwar Vergewaltigungsfälle verhandeln, doch niemals mehr unvoreingenommen. Je länger sie darüber nachdachte, desto weiter rückte sie von dem Plan ab, die Tat der Polizei zu melden.
Immer wieder tauchte sein Gesicht vor ihr auf, und tief in ihrem Innern wusste sie, dass sie es schon einmal gesehen hatte. Ihre Erinnerung an den Überfall verdrängte das, was davor war, und sie war zunehmend weniger in der Lage, die Wirklichkeit von der Einbildung zu trennen. Sein Gesicht …
Das Medikament tat seine Wirkung, Shana hatte sich ein wenig beruhigt. Vorsichtig setzte sich Lily auf und rief John vom Telefon auf ihrem Nachtkästchen an. Sie weckte ihn aus dem Tiefschlaf, und er meldete sich mit einem dumpfen und verärgerten »Hallo«, als erwarte er, dass sich jemand verwählt hatte.
»John, du musst herkommen.« Sie sprach leise und schnell. »Es ist etwas passiert.«
»In Gottes Namen, Lily, wie spät ist es? Ist Shana krank?«
»Uns beiden geht es gut. Bitte komm jetzt. Frag nicht, du erfährst alles, wenn du da bist. Shana ist bei mir.« Ihre Stimme wurde brüchig. Sie wusste nicht, wie lange sie ihre Fassung wahren konnte. »Bitte, John, komm her. Wir brauchen dich.«
Sie legte auf und sah auf die Uhr. Es war erst ein Uhr nachts, nicht mehr als zwei Stunden waren nötig gewesen, um ihrer beider Leben zu zerstören und ihnen die Freude, die sie endlich aneinander zu finden schienen, zu nehmen. Sie dachte an John, was es für ihn bedeuten würde. Shana war sein ganzer Lebensinhalt, sein geliebtes und gehegtes Baby. Nach Shanas Geburt hatte John Lily zur Seite geschoben und seine ganze Liebe auf die Tochter konzentriert. Sie hatte er getragen, gestreichelt, geküsst, und nicht mehr seine Frau. Lily begann zu zittern und legte die Arme um sich. Sie musste jetzt stark sein.
Es schienen nur Minuten vergangen zu sein, als John erschien. Die Zeit hatte stillgestanden, sie hatte über ihnen in einer dunklen Sturmwolke gehangen und sich nicht fortbewegt, der Wolkenbruch noch nicht entfesselt. John stand in der Tür zum Schlafzimmer und fing sofort an zu schreien. »Was, zum Teufel, ist hier los? Die Haustür steht sperrangelweit offen.« Sein Ton war anklagend, fordernd und richtete sich gegen Lily. »Sag mir, was passiert ist.«
Shana hatte sich in Lilys Armen langsam entspannt. »Daddy«, rief sie, als sie seine Stimme hörte. »O Daddy.« Er eilte zu ihr ans Bett, und Lily ließ sie los. John umarmte sie, und schluchzend presste Shana sich an seine Brust.
Er sah Lily an, und in seinen dunklen Augen lag Zorn, aber in der Tiefe stieg Angst in ihnen auf. »Was ist passiert? Sag, warum weint Shana?«
»Shana, ich gehe mit Daddy zum Reden nach nebenan«, sagte Lily mit sanfter Stimme. »Du wirst uns die ganze Zeit hören und wissen, wo wir sind. Wir sind ganz in deiner Nähe.« Sie stand auf und bedeutete John, ihr zu folgen.
Das Valium hatte sie ein wenig beruhigt, und sie erzählte John, was vorgefallen war. Sie versuchte, die Fakten wiederzugeben. Wenn sie nur einer Träne freien Lauf ließe, würden sich die Schleusen öffnen. Er beugte sich vor, um die kleinen Schnitte in ihrem Mundwinkel zu berühren, doch es lag keine Anteilnahme in dieser Geste. Es glich eher einem Reflex, der bestätigen sollte, dass sie ihm die Wahrheit erzählte. Seine Augen sagten deutlich, dass er sie für verantwortlich hielt, egal, was die Vernunft vorgab. Sie hätte die Kraft aufbringen müssen, um den Vergewaltiger zu bremsen. Es entsprach dem Bild, das John von ihr hatte: Sie war unbesiegbar. Dann begann er zu weinen, und seinem männlichen, vom Schmerz gezeichneten Körper entstieg der ungewohnte und klägliche Laut des erwachsenen Mannes, der mit der Stimme eines Kindes weinte. Sein Herz war gebrochen. Sein Kummer ließ der Wut keinen Platz mehr.
»Nun, willst du die Polizei rufen? Du bist ihr Vater, ich kann diese Entscheidung nicht allein fällen. Es ist nicht das letzte Wort gesprochen. Wir können auch später noch Anzeige erstatten, wenn wir es uns anders überlegen.« Ihr Blick wanderte zur Küche, und sie fragte sich, ob es dort Beweisspuren gab.
»Nein, ich bin deiner Meinung«, antwortete John. »Es würde alles noch viel schlimmer für sie machen.« Tränen
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